Schwester Melisse. Tanja Schurkus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tanja Schurkus
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783765571664
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„La Mettrie? Verehrte Schwester Melisse, dieses Buch fällt auf dem Gebiet der Heiligen Allianz“, er deutete mit der freien Hand nach oben, „unter die Zensur! Ein Arzt, der den Menschen als Maschine beschreibt, die mit der Dampfmaschine mehr gemein hat als mit Gottes Krone der Schöpfung!“

      „Deswegen sollst du es mir ja auch besorgen“, entgegnete Maria mit zugespitztem Lächeln.

      „Nun, dann wird es ein wenig dauern. Ich muss auf einen vertrauenswürdigen Holländer warten.“ Es gab etwa ein halbes Dutzend Flussschiffer, die für Gottfried verbotene Schriften aus Amsterdam beschafften. Dort holte man sie meist aus England, denn in diesem Land hatte man eine Schwäche für verfemte Franzosen.

      Maria griff noch einmal in ihre Tasche und gab ihm fünf Taler in die Hand. „Mehr habe ich nicht bei mir, aber als Wegegeld für deinen Holländer müsste es reichen.“

      „Mehr als das. Ich werde dir die Bücher in dein Geschäft auf der Litsch …“

      „Nein, bring es in den Domhof Nummer 19, dort werde ich meine eigene Destillerie einrichten und auch verkaufen.“

      „Im Haus des verstorbenen Domvikars?“

      „Ja, ich habe ihn jahrelang gepflegt, und vor seinem Tode hat er sich noch beim Bischof darum verwendet, dass ich es kaufen kann.“

      „In was für Zeiten wir nur leben!“, sagte Gottfried scherzhaft. „Da kauft eine säkularisierte Nonne mit dem Geld des Königs von Preußen dem Erzbischof ein Haus am Dom ab, um dort La Mettrie zu lesen!“

      „Ist alles Napoleons Schuld. Da siehst du, dass er doch ein Schlimmer war!“ Maria wusste um Gottfrieds Anhänglichkeit an den gestürzten und verstorbenen Kaiser von Frankreich und schloss daher ihre Worte mit einem kleinen Augenzwinkern.

      Was die Bücher betraf, konnte sie nun einen Haken auf ihre innere Liste machen. „Anzeigen“ – das war das Nächste, was es zu erledigen gab. Die neuen Texte hatte sie in den vergangenen Tagen öfter im Kopf bewegt als das Stundengebet.

      „Gib nur weiter gut auf dich und die Deinen acht“, sagte sie etwas fahrig zum Abschied. Was sie damit meinte, war: Halte dich von Theodor fern! Dann fasste sie die Tasche enger und schlug den Weg in Richtung Dom ein. Gottfried sah ihr nach, bis sie hinter den Karren, Reitern und Fußgängern verschwunden war, dabei wog er die Münzen in seiner Hand und dachte: Wenn das alte Mädchen sich da mal nicht Ärger einhandelt!

      Er kehrte in die Küche zurück, wo Theodor seinen Neffen auf einem Knie sitzen hatte. Er hielt ihn an den Ärmchen fest und ließ ihn dabei nach hinten fallen: „Dann macht der Reiter plumps!“ Der Kleine strampelte mit den Beinen und lachte.

      „Du darfst es der Maria nicht übel nehmen“, begann Gottfried und legte seinen Hut ab. „Sie meint es nur gut.“

      „Das sind die Schlimmsten!“, gab er zurück, ohne aufzusehen.

      „Ich sollte von dem Geld doch ein Wachsbild machen lassen“, sagte Anna, die immer noch die Münzen betrachtete. „Aber was für eins? Vom Sankt Blasius vielleicht?“

      „Kauf das Huhn, wie Maria es gesagt hat“, meinte Gottfried.

      „Dann lass ich aber eins ganz frisch schlachten! So haben wir auch die Federn und können für die Kleinen ein Kissen damit füllen!“ Sie legte ihre Schürze ab, öffnete die Truhe, nahm eine weiß gestärkte Haube hervor und ein schlichtes Ohreisen, das sie jedoch wieder fortlegte. Dann griff sie zu einem anderen, das mit geschliffenem Buntglas besetzt war und das sie sonst nur an Sonntagen trug.

      „Gebt mir auf die Kinder acht!“ Mit unternehmungslustigen Schritten verließ sie das Haus.

      „Die Anna!“, kommentierte Theodor diesen Abgang. „Die kommt uns noch mit einem Huhn aus Marzipan zurück.“

      Anna hatte, das wusste jeder im Schatten von St. Severin, eine Schwäche fürs Geldausgeben – vor allem für Zuckerzeug, und deswegen hatte sie auch den Beinamen „Et Zückersche“. Ihr Mann Johann verdingte sich als Maurergehilfe, dadurch kam nicht viel herein. Theodor war immerhin Maurergeselle, aber seit Wiedereinführung der Zünfte hatte er sich nicht mehr um einen Meister bemüht. Er hatte nie geheiratet und war von der Familie seines Bruders Johann aufgenommen worden. Er gab vieles von seinem Verdienst an sie ab. Sein Schlaflager war in der Küche, mehr Platz gab es nicht.

      Theodor bettete seinen Neffen neben seinen schlafenden Bruder in die Wiege. „Da können jetzt nur zwei Dinge geschehen: Der eine weckt den anderen auf, oder …“ Aber das unausgesprochene Letztere schien einzutreten: Nach der Kolik und dem kleinen Spiel war der Junge müde, schmiegte sich an seinen Bruder und schlief ein.

      Gottfried zog sich einen Schemel heran. „Hast du gelesen, was heute in der Kölnischen Zeitung stand?“

      Theodor beantwortete die Frage nur mit einem Murren: Seit die Zeitung unter der preußischen Zensur stand, verweigerte sich Theodor ihren Nachrichten von den Segnungen der neuen Herrschaft.

      Gottfried griff in seine Westentasche und zog eine gefaltete Seite hervor. Er öffnete das Blatt, legte es auf den Tisch und tippte auf eine Anzeige. Theodor warf einen Blick darauf, tief gebeugt, weil es wenig Licht gab. „Ein Wunderkind?“

      „Lies weiter.“

      „Herr Louis zeigt dem hiesigen und auswärtigem Publikum ergebenst an, dass seine kleine Tochter, die mit einem außerordentlichen Naturwunder versehen ist, seit dem Tage dieser Anzeige in der Stadt weilt. Er ladet daher diejenigen verehrlichen Personen ein, welche dieses Wunderkind zu sehen wünschen, ihn mit ihrem Besuche zu beehren und sich daselbst davon zu überzeugen, dass in den Augen des Mädchens …“ Theodor las stumm weiter und sah auf.

      „Ich denke, das ist die Nachricht, auf die wir so lange gewartet haben. Wir sollten Herrn Louis aufsuchen“, meinte Gottfried.

      „Ja. Aber warum in der Zeitung? Da lesen es auch die Preußen!“

      „Die geschickteste Verschwörung ist doch die, die nicht heimlich ist“, antwortete Gottfried. „Und unser Vorteil ist, dass die Preußen glauben, wir hätten es aufgegeben und unsere Sache taugte nur noch für Jahrmarktsattraktionen.“

      „Da werden wir sie bald eines Besseren belehren!“

      3

      Vom Neumarkt her klang das Rufen der Befehle. Es wurde exerziert, wie beinahe an jedem Tag. Daraus sollten nicht nur die Soldaten etwas lernen, sondern auch das Volk, das an diesem größten Platz vorüberkam. Der Gleichschritt war der neue Herzschlag der Stadt. Sie beherbergte nicht einfach eine Garnison – die stetig zunehmende Zahl von Kasernen und Festungswerken hielt sich vielmehr eine Stadt. Man legte ihr ein Geschirr an, jeden Tag wurden die Riemen enger gezogen und ein Eisenteil angefügt.

      Eines Tages würde man das Geschirr in einen Wagen hängen, und in diesem Wagen saß der Krieg. Vielleicht war es ein Krieg gegen Österreich, wahrscheinlicher war es ein Krieg gegen Frankreich. Gewiss war es auch ein Krieg gegen einen anderen deutschen Staat: Hessen lag recht störend zwischen dem preußischen Stammland im Ostelbischen und der neuen Provinz am Rhein. Man musste die Rheinländer also dazu bringen, sich nach einer Vereinigung mit dem großen Preußen zu sehnen, und schon würden sie den Wagen willig ziehen. Daher begann und endete das Exerzieren immer mit Musik. Dann blieben die Kölner mit fröhlichen Gesichtern stehen, und die Kinder folgten den Kapellen, bis diese in den Kasernen verschwunden waren.

      Die Klänge eines Marsches vermischten sich mit dem Glockengeläut von St. Aposteln. Es war dieser Schlagabtausch der Geräusche, der Major von Pregnitz zu diesen Gedanken über die Kölner Verhältnisse brachte. Er saß in einem Separee des Kasinos am Neumarkt, ihm gegenüber in Ziviluniform Dr. Elkendorf. Jeden Dienstag nahmen sie gemeinsam ein spätes Frühstück ein. Pregnitz nahm dabei Rücksicht auf die Empfindlichkeit seiner Standesgenossen und blieb mit dem bürgerlichen Zivilisten in diesem abgelegenen Raum. Die Kölner hatten sich daran gewöhnen müssen, dass nun jeder wieder nach seinem Stande Umgang pflegte. Eines aber verband den Major mit dem Arzt: der Kampf gegen