Schwester Melisse. Tanja Schurkus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tanja Schurkus
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783765571664
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      „Elkendorf und Merrem geben mir Digitalis und können sich nicht darauf einigen, ob man mein Herz dadurch stärken könnte, indem man mich schröpft.“ Sie überprüfte den Sitz der Schleife, die ihre Chemise am Hals schloss. „Einer steht links am Bett, der andere rechts, und sie versichern sich ihrer Hochachtung. Damit ist mir nicht geholfen. Ich will diese Nonne sehen!“

      „Dein Wunsch ist verständlich, aber unklug“, entgegnete Pregnitz.

      Da seine Frau nun wieder manierlich gebettet war, trat er näher. Das Dienstmädchen stand noch beim Kerzenleuchter, die Hände vor der Schürze gefaltet, und wartete darauf, entlassen zu werden.

      „Du kannst gehen“, sagte er. Sie machte einen Knicks und huschte ins Dunkel davon.

      Da sie nun allein waren, zog Pregnitz sich einen Sessel heran und setzte sich neben das Bett. Eine Innigkeit, die nicht für die Augen von Dienstboten bestimmt war. „Um diese Nonne gibt es im Moment allerlei Gerede. Die Leute fragen sich, warum sie die Bevorzugung durch die preußischen Behörden besitzt. Es wäre ein sehr ungünstiges Signal, sollte ich sie in dieses Haus bitten. Es wird in naher Zukunft über meine Beförderung zu entscheiden sein. Und wenn ich für den Rang eines Generals infrage komme, der mir von Vaters wegen zusteht, hätte ich auch Aussicht auf den Posten des Zweiten Stadtkommandanten. Das Liebäugeln mit den Papisten ist dabei nicht ratsam.“

      Den durchdachten Erwägungen ihres Mannes hatte Clara selten etwas entgegenzusetzen. Er leitete den Ausbau eines gesamten Forts, des Forts IV, ihr gelang es kaum, diesen Haushalt zu führen. Wie hätte sie ihm da widersprechen können?

      Ihr Blick flüchtete sich zu dem Leuchter. Die Flammen waren nun sehr ruhig, es waren drei. Sie hatte drei Kinder. Der Älteste war zur Erziehung nach Berlin gegangen, die beiden jüngeren, ein Mädchen und ein Junge, waren in Köln geblieben. Elkendorf hatte ihr gesagt, dass eine weitere Schwangerschaft ihren Tod bedeuten würde. Dass sie keine weiteren Kinder haben würde, hatte bei ihr kein Gefühl ausgelöst. Ihr war dabei, als hätte er von einer anderen gesprochen. Manchmal schien ihr, als würde es noch eine zweite Clara von Pregnitz geben, eine gesunde Clara, die ihr Leben gestohlen hatte und es gedankenlos lebte. Sie fragte sich, ob es allen schwer Erkrankten so ging, ob sie alle das Gefühl hatten, es gäbe noch eine gesunde Version von ihnen, von der sie im Stich gelassen worden waren …

      Von Pregnitz fühlte sich gerührt durch den Anblick, den seine Frau ihm bot: Sie blickte gleichsam entrückt in den Kerzenschein, scheinbar nur in dieser Welt gehalten von dem bauschigen Federbett, die Hände darauf so weiß wie das gebleichte Leinen. Alles sprach von ihrer Bereitschaft zur Selbstaufopferung. So wie sie dort lag, empfand er eine Nähe zu ihr, die nicht in den geteilten Tugenden ihrer Herkunft lag. Er wechselte zur persönlichen Anrede, als er wieder sprach: „Clara, Liebste, welche Hilfe könnte dir denn auch diese Nonne zukommen lassen, zu der Elkendorf und Merrem nicht in der Lage wären? Natürlich ist sie in den alten Heilkünsten der Klöster ausgebildet, aber wir leben in den Zeiten galvanischer Kräfte …“

      „Meinem Körper ist nicht mehr zu helfen, wenn ich den Elkendorf recht verstanden habe. Aber dem Gemüt …“ Es regte sie auf, darüber sprechen zu müssen, wieder jagte ihr Herz. „Ich habe einmal gelesen, dass das Gemüt für den Körper das ist, was die Segel für ein Schiff sind. – Ich will mit dieser Nonne sprechen!“

      „Wenn es dir um das Wohl deiner Seele geht, werde ich nach unserem Herrn Pfarrer schicken.“

      „Der kommt noch früh genug. – Diese Menschen hier hassen uns“, sagte sie scheinbar unvermittelt, aber es war das, was auf ihrem Gemüt lastete, tagaus, tagein: die Angst vor diesen Leuten da draußen, vor diesem Gemisch aus Aufsässigkeit und Aberglaube, aus Armut und Trotz, aus Genügsamkeit und Frivolität.

      „Aber Clara!“ Pregnitz schlug die Beine übereinander und faltete die Hände auf den Knien, um sie betrachten zu können. „Nun übertreibst du aber! Die Leute hier sind doch eigentlich von ganz und gar kindlicher Natur: Ein wenig Spaß an ihrem Karneval und ein scharfes Wort, wenn sie es zu wild treiben, dann ist mit ihnen gut auskommen.“

      „Sie würden uns in unseren Betten ermorden, wenn sie könnten!“

      „Du willst unsere braven Rheinländer doch nicht mit den Wilden vergleichen, die morgens den Choral singen und abends die Trommel schlagen?“

      „Sie werden einen Aufstand machen – und dann wehe uns!“

      „Clara, mit Verlaub, du hast seit einem halben Jahr das Haus nicht mehr verlassen. Wie kannst du da wissen, was die Menschen in dieser Stadt umtreibt?“

      „Vielleicht weiß ich es durch die Dienstboten sogar besser … Und dir berichtet man nur, was du hören willst!“

      „Du bist ja schlimmer als unser Polizeipräsident Struensee, der überall Verschwörung wittert!“, meinte Pregnitz. „Du bist überreizt und brauchst Ruhe.“

      Er beugte sich zu Clara und küsste ihre Stirn. Sie war überraschend warm. Für einen kurzen Moment kam ihm eine Erinnerung an das Begehren. Nach dem, was Elkendorf ihm über den Zustand seiner Frau gesagt hatte, hatte er auf dieses Begehren verzichten müssen. Er hatte es geopfert; und das Opfer war natürlich nur dann eine Tugend, wenn es ein vollständiges war. Sein Naturell war nicht so liederlich, als dass er seiner Frau nicht bis zu ihrem Tode die Treue hätte halten können. Er fragte sich jedoch, wie lange Clara bereit war, sich zu opfern; wann sie beginnen würde, ihm Vorwürfe zu machen, dass er sich nach Köln hatte versetzen lassen; wann sie sich über seine Entscheidungen hinwegsetzen würde. Sie hatte nicht noch einmal nach der Nonne gefragt.

      „Soll ich dir die Kerzen lassen?“, fragte er, die Hand am Leuchter.

      „Nein, geh und sieh nach den Kindern!“

      „Ich wünsche dir eine gute Nacht.“

      Sie antwortete nicht und sah ihn nicht an.

      Pregnitz ging nicht gleich in die Kinderstube. Er stellte den Leuchter im Salon ab und setzte sich vor das fast verglühte Feuer im Kamin. Er erinnerte sich an eine seiner liebsten Knabenbeschäftigungen: Er fing eine Grille, eine Spinne oder einen Käfer und gab sie in eine leere Flasche. Er entschied jeden Tag aufs Neue, wie er mit dem Tier verfahren wollte: Mal gab er ihnen Zuckerwasser, mal nichts; mal warf er ihnen Blätter hinein, mal ließ er die Flasche voll Wasser laufen, um zu sehen, ob sie schwimmen konnten; manchmal ließ er sie frei, manchmal lagen sie eines Morgens tot am Boden der Flasche. Es war nicht das Experiment mit dem Tier, das ihn reizte, sondern das Experiment mit sich selbst: Wie war ihm zumute, wenn er für das Wohlbefinden des Gefangenen sorgte? Und wie, wenn er es getötet hatte?

      Auch Clara war ein solches Experiment an ihm. Er würde es sehr bedauern, sie zu verlieren. Ihr Hilfe suchender Blick löste in ihm Gefühle aus, die allzu leicht an den Wächtern vorüberkamen, die er dort aufgestellt hatte. Ihr Wunsch, diese Nonne zu sehen, hatte keinen vernünftigen Grund. Er war neugierig auf die Folgen. Warum also nicht ein zweites Tier in die Flasche geben und sehen, was geschah?

      6

      „Ich bin nur eine arme alte Nonne, aber ich bin nicht einfältig.“ Für den Besuch beim Brennereimeister Schaeben hatte sie ihren Habit angelegt: das schwarz-blaue Obergewand mit dem roten Unterkleid, das vom adligen Stand der Annunziatinnen kündete. Die Revolution hatte der Ehrfurcht vor diesen Gewändern nur vorübergehend geschadet. Wenn sie heute in dieser Kleidung durch die Stadt ging, blieben die Leute stehen und schlugen ein Kreuz. Selbst die derben Arbeiter, die im Sternenberger Hof Branntweinfässer aufluden, hatten innegehalten und die Hüte abgenommen.

      Auch auf den Brennereimeister machte es Eindruck. Maria gestand sich, dass sie aus Berechnung die Kleidung der Ordensfrau angelegt hatte. Sie gestand es Gott – aber sie spürte sein Einverständnis, denn er wusste, dass ihre Absichten gut waren. Schaeben hatte sie in sein Arbeitszimmer gebeten. Durch die Butzenglasscheiben drang der Arbeitslärm der Brennerei. Es war noch Fastenzeit, daher wurde auf das bei solchen Besprechungen in Köln übliche Schnäpschen verzichtet. Ein Dienstmädchen brachte stattdessen eine Karaffe mit Limonade. Maria hatte Platz genommen und strich