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durfte sie ihren eigenen Stab von Lakaien haben, der ihr unter die Arme griff. Sie würde an der Spitze der Hierarchie stehen, was Assistenten betraf, und mochte sich von dort aus zu den ganz Großen emporarbeiten – nicht mehr assistieren, sondern zu jemandem werden, dem assistiert wurde.

      Fürs erste jedoch war sie hier dazu verdammt, Mittagessen zu bringen, diesen Termin abzusagen und jenen zu verschieben, dort einen neuen festzulegen, diese Akte aus jenem Büro zu holen und der Chefin den Arsch zu retten. Seit Jessicas Beförderung feststand, halste ihre Chefin ihr jede mögliche Aufgabe auf, die ihr einfiel. Der vergangene Monat war heftig gewesen, allerdings auch der letzte. Nächste Woche stieg sie in einen Flieger nach Australien und begann ein neues Leben.

      Sie dachte an ihren Abflug. Sie würde ans andere Ende der Welt reisen – genau an dem Tag, da sie mit Cillian Knight vor den Altar hätte treten sollen, um sich von Jessica Elizabeth Clay in Mrs. Cillian Lawrence Knight zu verwandeln. Der Name klang gar nicht so übel.

      Nein, sie musste sich ihn aus dem Kopf schlagen. Sie würde nicht an diesen Tag denken. Das war vorbei und sie darüber hinweg. Am besten vergaß sie ihn und blickte nach vorne. Das hatte sie schon zuvor geschafft, also würde sie es wieder tun.

      Jessica stellte sich aufrecht vor den Spiegel und betrachtete ihren drahtigen Körper mit den schlanken Beinen in weißer Bluse und weinrotem Rock. Nachdem sie ihren langen, blonden Pferdeschwanz festgezogen hatte, frischte sie das Makeup rings um ihre großen, leuchtend blauen Augen auf. Deren Farbe war im Gegensatz zu ihrem Haarton echt. Noch ein letzter Hauch Puder auf ihre hohen Wangenknochen und die schmale Nase, dann verließ sie die Toilette. Beim Hinaustreten fuhr sie noch einmal mit dem Pflegestift über ihre Lippen.

      Ihr Weg zu den Einzelbüros führte sie vorbei an Arbeitswaben und dem Pausenraum mit Wasserspender. Sie war von Linda, ihrer Chefin, beauftragt worden, mehrere Akten zu besorgen, die sie zuerst für wichtige Papiere gehalten hatte, die der Geheimhaltung unterlagen. Es handelte sich jedoch nur um Sachen aus der unteren Führungsebene: Fließdiagramme, die der Vizepräsident auswerten wollte. Jessica kam es so vor, als habe Linda sie absichtlich auf einen sinnlosen Botengang geschickt.

      Sie betrat ein kleines Büro mit umso größeren Fenstern. Der Manager, der hier arbeitete, mochte zwar keinen hohen Stand genießen, dafür aber eine fabelhafte Aussicht, insbesondere heute. Das Benefizkonzert für die Rückenmarksforschung fand im Park statt, der sich gleich gegenüber dem Büroturm erstreckte. Jessica hatte mehrere Arbeiter und Hausangestellte an den Fenstern auf dieser Seite des Gebäudes bemerkt, die versuchten, sich eine Gratis-Show zu genehmigen. Einige benutzten sogar Ferngläser.

      Jetzt trat sie selbst vors Fenster und schaute hinunter in den Park. Sie hatte erwogen, das Konzert ebenfalls zu besuchen. Keystone gehörte zu den Veranstaltern, also wäre es ein Leichtes gewesen, Karten zu ergattern. Am Ende hatte sie sich aber dagegen entschieden; nur die ersten paar Bands hätten sie interessiert, der Rest war eher Cillians Fall.

      Da, schon wieder schlich er sich in ihre Gedanken ein … Sie hasste das. Das lag vermutlich daran, dass ihr Blick gerade auf die Reihe von Notfallfahrzeugen fiel, die am Rand des Parks standen. Das Gelände so voll zu sehen, war eigenartig. Sie aß dort oft zu Mittag. Normalerweise herrschten Ruhe und Frieden, denn der Park war schlicht ein großes Feld, beliebt zum Picknicken und Gassigehen mit Hunden. Wegen dieser Weitläufigkeit wurde das Konzert dort abgehalten; die Baumgruppen, die in den Ecken aufragten, störten nicht weiter. Unter einer von ihnen hatte sie Cillian bei ihrer allerersten richtigen Verabredung getroffen.

      Und abermals drängte er sich ihr auf.

      Jessica schüttelte den Kopf, um jegliche Gedanken zu verdrängen, die ihr wieder Tränen in die Augen getrieben hätten. Dass sie die Stadt bald verließ, war gut; damit würden auch all die quälenden Erinnerungen verschwinden. Sie drehte sich vom Fenster zum Schreibtisch um. Die Papiere, die sie suchte, lagen nicht darauf, wie Linda behauptet hatte. Seufzend machte sich Jessica daran, die Schubladen zu durchstöbern.

      Vielleicht hätte sie ein schlechtes Gewissen haben sollen, weil sie am Arbeitsplatz eines Kollegen herumschnüffelte, doch das lag ihr fern. Sein persönlicher Kram ließ ihn in keiner Weise unter den anderen hier hervorstechen: Fotos von Ehefrau, Sohn und Hund standen auf dem Tisch, in der obersten Schublade lag ein Anti-Stress-Ball, und er hatte ein kitschiges Zertifikat für irgendeine Leistung aufgehängt, die kein bisschen mit dem zusammenhing, was er hier tat. Jessica fand unter Papierkram in der untersten Schublade ein weiteres Bild. Sie gab ihrer Neugierde nach und betrachtete es, einen Säugling im Krankenhaus. Die rosafarbene Decke und Kappe deuteten auf ein Mädchen hin. Es war also nicht sein Sohn, doch wer sonst?, fragte sie sich. Vielleicht ein Schwesterchen für ihn, aber doch nicht etwa eine uneheliche Tochter, die aus einer Affäre hervorgegangen war? Jessica hoffte, das Geheimnis dieses Bildes sei nicht allzu tragisch, etwa plötzlicher Kindstod oder dergleichen.

      Als sie das Foto zurücklegte, beschloss sie, sich auf die Fremdgänger-Theorie festzulegen. Brisanter Tratsch solcherart machte in diesen Büros andauernd die Runde, also war es nicht schwierig, sich etwas in dieser Richtung vorzustellen. Sie ließ das private Zeug links liegen und konzentrierte sich einzig darauf, die angeforderten Dokumente zu sichten.

      Zuletzt fand sie das Material merkwürdigerweise unter dem Tisch. Es belief sich auf ein paar zusammengeheftete Papiere, die bestimmt von der Platte geweht worden und dort gelandet waren – obwohl Jessica Linda zutraute, es irgendwie so gedreht zu haben, dass die Sachen an dieser Stelle lagen. Sie las sie auf und steckte sie zum Laptop in ihre Tasche. Als sie das Büro verließ, wurde das Konzert eröffnet. Die Musik war so laut, dass Jessica sie und vor allem den Bass bis hier oben hörte. Sie erkannte einen Song, den sie mochte, und summte mit.

      Als sie zurück ins Großraumbüro ging, bemerkte sie, dass sie nicht allein war, und verstummte. An der Glaswand saß jemand in einem billigen Klappstuhl. Er drehte sich um und winkte, als Jessica eintrat.

      »Hallo Jessica!« Es war Jack, einer von Lindas anderen Assistenten und Jessicas Lieblingskollege. »Was treibst du hier?«

      »Linda wollte, dass ich ein paar Akten für sie besorge.« Jessica klopfte auf die Laptoptasche an ihrer Hüfte.

      »Ach, sie kann warten. Nimm dir einen Stuhl und schau dir das Konzert mit mir an.« Jack lächelte und zeigte neben sich auf den Boden.

      Jessica fand, ein wenig Zeit mit Jack zu verbringen, sei keine schlechte Idee. Sie mochte ihn; sie konnten sich über alles unterhalten, und sie hätte ihm schon längst den Hof gemacht, stünde er nicht in einer ernsthaften Beziehung und wäre kein überzeugter Homosexueller. Der zweite Grund hätte sie aber im Übrigen nicht davon abgehalten. Er zählte, abgesehen von ihren Verwandten, zu den wenigen Menschen, die sie vermissen würde, wenn sie umzog. Da ihre Familienangehörigen jedoch nicht in der Stadt lebten, sollte sich an ihrem Verhältnis zu ihnen wenig ändern – nur eine andere Zeitverschiebung, an die sie sich gewöhnen musste.

      Jessica schnappte sich einen Stuhl aus einer angrenzenden Bürozelle und nahm neben Jack Platz. »Wann bekommt man schon die Gelegenheit, dir zufällig zu begegnen?« Er lachte. »Ich habe diese Etage gewählt, weil mich hier wohl niemand erkennt und verpfeift.«

      »Schicksal, schätze ich.« Jessica zog eine Schulter hoch und stellte ihre Tasche auf den Boden. »Warum hast du dir nicht einfach eine Karte besorgt? Wäre doch kein Problem gewesen, und die Einnahmen dienen schließlich einem guten Zweck.«

      »Ich weiß, aber momentan versuche ich, meine Kohle, so gut es geht, zusammenzuhalten.«

      »Wozu denn?«

      »Andrew und ich haben beschlossen, ein Baby zu adoptieren.« Jacks Grinsen wurde breiter und ließ sein Gesicht strahlen.

      »Meine Güte!«, quietschte Jessica. Sie liebte Andrew fast genauso innig wie Jack. Als sie noch mit Cillian zusammen gewesen war, hatten sie sich regelmäßig zu viert getroffen, und jetzt, da sie getrennt waren, konnte sie sich prima an Andrews Schulter ausheulen oder einfach nur ein Eis mit ihm essen gehen. »Herzlichen Glückwunsch! Das ist unheimlich aufregend.«

      »Nicht wahr? Wir sparen zuerst noch eine Menge Geld, um sicherzugehen, dass wir ein gutes finanzielles Polster haben, zumal sich die Formalitäten