Er beobachtete, wie Gottfried vom Pferd gehoben wurde. Man nahm Juls Gegner den Helm ab. Ein jungenhaftes, schmerzverzerrtes Gesicht wurde sichtbar. Gottfried von Auen war nicht älter als einundzwanzig!
In seiner langen Jugend hatte er oft genug gegen halbe Kinder gekämpft. Meist waren sie nicht freiwillig in den Krieg gezogen. Selten durften Jungen ihre Kindheit genießen. Angeblich handelte es sich um erwachsene Männer, die zum Ritter geschlagen wurden. Aber was wussten Einundzwanzigjährige schon vom Leben!
Jul ließ sich vom Pferd helfen. Manus strafte ihn mit einem finsteren Blick. Nach jedem Kampf wirkte Manus beunruhigter. Jul lachte, um ihn zu beruhigen.
»Das ist kein Scherz, Bruder. Du gehst mit deinem Leben leichtfertig um, obwohl dir doch Großes bevorsteht.«
Jul klopfte Manus auf die Schulter und betrat das Zelt, das sie bewohnten. »Das höre ich regelmäßig. Aber nichts passiert.«
»Wenn du tot bist, wird es das auch nicht. Dann wirst du dein Schicksal nicht mehr erfüllen können.« Manus schälte Jul aus seiner Rüstung.
Die Zeltplane wurde zurückgeschlagen. »Wie könnt Ihr es wagen!«
Jul entdeckte Gottfried von Auen am Eingang des Zeltes. »Was meinst du?«
»Ihr habt euch zurückgehalten! Ihr seid bekannt dafür, einen harten Stoß zu führen. Aber mich habt Ihr mit Eurer Lanze nur … nur gestreichelt.«
»Warum auch nicht?« Sein Gegner war zu jung, um Juls Verhalten zu verstehen.
»Ihr habt mich geschont!«
»Sei froh, dass du glimpflich davongekommen bist«, antwortete Jul mit einem freudlosen Lächeln und wandte sich ab.
»Ich habe ein ehrliches Tjost verdient!«
Jul drehte sich neuerlich um. »Wärst du gerne verletzt worden?«
»Nein«, gab Gottfried von Auen zu. »Aber dieses Risiko bin ich bewusst eingegangen. Es ist demütigend zu wissen, dass Ihr mich nicht als vollwertigen Gegner erachtet.«
Die ehrlichen Worte rührten an Juls Herz. »Ihr habt vermutlich recht. Ich habe mich Euch gegenüber nicht respektvoll verhalten. Nehmt meine Entschuldigung an, dann werden wir uns beim nächsten Tjost als wahre Gegner gegenüberstehen.« Er streckte Gottfried die Hand entgegen.
Zögerlich griff Gottfried danach. »Danke.«
Jul klopfte Gottfried auf die Schulter. »Und jetzt zieht diese Rüstung aus, damit wir etwas trinken gehen können.«
»Ich fordere Wiedergutmachung.«
»Der Kampf ist bereits beendet«, stellte Jul klar.
»Das mag stimmen. Aber nach ein paar Krügen Bier können wir uns in einem Faustkampf messen.«
Jul brach in überraschtes Gelächter aus. »Einverstanden.«
»Man sollte dem Mann das Schreiben beibringen.«
Jul schüttelte den Kopf. Das Lachen und Grölen eines Betrunkenen am Nebentisch machte es ihm schwer, Manus zu verstehen. »Wovon sprichst du?«
»Ich habe mir die Aufzeichnungen über die Turniere besorgt.« Manus schob Jul ein Blatt zu. »Der Schriftführer dürfte die Zahlen im Dunkeln geschrieben haben. Sie sind nicht lesbar und anscheinend falsch.«
»Was überprüfst du?«, erkundigte sich Jul.
»Die Siege von deinem neuen Freund. Irgendwas kann da nicht stimmen.«
Jul warf einen Blick auf das Stück Papier. »Wie kommst du darauf?«
»Angeblich hat dieser Gottfried von Auen bereits zehn Turniere gewonnen. Obwohl er erst vor einem Jahr an seinem ersten Tjost teilgenommen hat.«
Beeindruckt verzog Jul das Gesicht. Gerade in diesem Augenblick betrat der junge Mann, von dem sie gesprochen hatten, das Lokal. Jul betrachtete das dunkelbraune Haar des Ritters, das dringend einen Haarschnitt benötigte, die schmalen Schultern, denen man die Entbehrungen ansah, aber auch die strahlenden, braunen Augen, die seinen Mut widerspiegelten.
Mit großen Schritten kam Gottfried auf sie zu. Vermutlich konnte der Bursche ein wenig Unterstützung brauchen. Eine Stimme in Jul flüsterte ihm zu, dass er den jungen Ritter unter seine Fittiche nehmen könnte.
»Wir haben gerade festgestellt, dass wir es mit einer Berühmtheit zu tun haben«, begrüßte Jul Gottfried.
Der junge Mann sah sich um. »Ich sehe niemanden.«
»Jul spricht von Euch«, stellte Manus grinsend fest. »Stimmt es, dass Ihr aus zehn Turnieren als Sieger hervorgegangen seid?«
»Ich habe in dem Jahr, seit ich zum Ritter geschlagen wurde, auch nur an fünfzehn Tjosten teilgenommen.« Gottfried nahm Platz. »In den nächsten Jahren hoffe ich meine Quote zu verbessern.«
Jul blickte zu Manus, und die beiden lachten. Mangelnde Bescheidenheit konnte man dem jungen Mann nicht vorwerfen.
»Dann seid Ihr über Eure Niederlage heute sicherlich nicht sonderlich erfreut.«
Gottfried nickte. »Ich habe Euch zu wenig Widerstand geleistet. Nach Eurem ersten, viel zu zaghaften Stoß war ich verwirrt. Deshalb habe ich falsch reagiert. Das wird mir nicht noch einmal passieren.«
»Und ich werde Euch nicht noch einmal unterschätzen.« Jul winkte eine Magd heran, damit sie ihnen Bier brachte.
»Seit wann seid Ihr bei Turnieren dabei?«
Jul grinste.
»Es tut mir leid, dass ich so uninformiert bin. Sollte ich von Euch gehört haben?«
»Justitian von Wolkenstein hat sich noch keinen großen Namen gemacht«, antwortete Jul und blieb damit so nahe wie möglich an der Wahrheit. Unter anderer Identität war er bereits bei den ersten, weitaus blutigeren Kämpfen dabei gewesen.
Gottfried zog die Stirn in Falten. »Justitian von Wolkenstein? Hat Euer Freund Euch nicht gerade Jul genannt?«
»Mein Spitzname.« Jul lächelte. »Wenn wir uns ein wenig besser kennen, dürft Ihr diesen Namen verwenden.« Dieser Tag könnte bald kommen. »Wie sehen Eure Pläne für die Zukunft aus? Wenn Ihr welche habt.«
»Zuerst will ich mir einen Namen machen. Einen großen Namen.«
»Ihr habt doch einen Namen«, meinte Jul.
Gottfrieds Gesicht verzog sich. »Niemand nimmt dich ernst, wenn du Gottfried von Auen heißt. Ich will Erfolg haben.«
»Euer Kampfeswille ist unbestreitbar. Und als wer wollt Ihr bekannt werden?«
»Als jemand Starkes. Als jemand Kräftiges.«
»Wie Hektor die todbringende Lanze?« Jul grinste.
»Wenn dieser Name meine Gegner die Flucht ergreifen lässt, dann nehme ich ihn gerne.«
Manus und Jul lachten.
»Was kommt danach?«, fragte Jul weiter.
»Nach dem Namenmachen? Da gründe ich eine Familie.«
»Ihr seid auf der Suche nach einer Frau?«
Gottfried nickte. »Wenn die Zeit reif ist.«
»Ihr wollt Kinder?«
Wieder nickte Gottfried. »Viele Kinder.«
Ein fremdartiges Sehnen ergriff von Jul Besitz. Ihm selbst war die Beziehung zu einer Frau verboten. Wenn er gegen diese Regel verstieße, würde ihm Bestrafung drohen. Doch diesen jungen Mann sagen zu hören, wie genau er sein Leben bereits geplant hatte, erschütterte Juls Glauben. In seinen hunderten von Leben hatte Jul sich niemals so zielgerichtet gefühlt.
Die Magd stellte ein Bier vor Jul ab. Jul begutachtete beiläufig