Der Hunger machte sich bei allen nun doch bemerkbar. Mutter zerkleinerte den Hasen und verteilte die Stücke. Wulfila und die kleine Schwester knabberten an den Vorderläufen, während Mutter und Großmutter sich von den weicheren Teilen der Brust und Lenden nahmen. So recht genüsslich konnten sie jedoch nicht das sonst so begehrte Fleisch verzehren. Ihre Blicke wanderten immer wieder hinüber zum Vater. Ein leichtes Beben ging durch dessen Körper und seine Arme zuckten, als wolle er sich vor etwas schützen. Sein Mund bewegte sich, und über seine Lippen kamen unverständliche Worte. Er träumte. Mutter, die ihm am Nächsten saß, beugte sich zu ihm hinüber und tupfte immer wieder Schweiß von der breiten Stirn. Seine langen grauen Haare klebten ihm auf der Haut und umfielen wirr sein Lager.
Wulfila erhob sich und ging zum Stall hinüber, um nach den Tieren zu schauen. Vorher ergriff er aus der Feuerstelle noch ein brennendes Holzscheit, um es als Fackel zu benutzen. Von Gatter zu Gatter ging er und stellte fest, dass sich die Tiere alle wieder beruhigt hatten. Einige Schafe glotzten ihn aus braunen Augen an, andere lagen im Heu, mit dem Rücken zu ihm und schienen zu schlafen. Plötzlich wurde seine Hand von hinten sanft gegriffen. Wulfila fuhr herum und erblickte seine kleine Schwester, in deren traurigen Augen ihre ganze Sorge um den Zustand des Vaters stand. Ihre langen Haare, sie hatten die Farbe von Getreide kurz vor der Ernte, fielen ihr hinab bis zu den Schulterblätter und waren vom Scheitel bis zu den Spitzen leicht gewellt. Sie wird bestimmt einmal eine Schönheit, dachte Wulfila bei sich, strich ihr mit der Hand über den Kopf und ließ sie schließlich auf ihrer Schulter liegen. Sofort neigte sie ihren Kopf an seine Hüfte. Ein leichtes, befreiendes Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie zu Wulfila hinaufschaute. Arm in Arm machten beide ihre Runde durch den Stall.
Bläulich-weiß schien ihnen der Mond entgegen, als sie zurück zur Eingangstür kamen und herausschauten. Schattengleich sah man ein paar Dorfbewohner über den Versammlungsplatz huschend ihren Hütten zustreben, um darin zu verschwinden. Der Himmel war fast schwarz. Als solle man die Sterne zählen, so standen sie dort oben. Und vor allem: Der Mond! Er war noch nicht kreisrund, eine Seite noch abgeflacht. Zwei Nächte noch und er würde seine volle Größe haben. Dann würden alle Sippenfürsten wissen, dass die Nacht der großen Versammlung gekommen ist. „In zwei Tagen werden sie alle hier in unserem Dorf sein“, dachte Wulfila.
Im fast schon gespenstigen Schein des Mondes und der Sterne erblickten beide den hellen Fleck, der sich am Waldesrand zum Hügel hinaufbewegte. Der Druide! Er war nur Erfüllungsgehilfe bei seinen Taten. Odin war es, der dem Druiden die Kraft verlieh und dem er nun den schuldigen Dank zu entbieten hatte. Sein gemächlicher Schritt führte den Druiden zur Weide hinauf, dorthin, wo die beiden Schimmel, standen und leise schnaubend den alten Mann begrüßten, als ob sie ihn schon erwartet hätten. Ehrfurchtsvoll blieb er vor den edlen Tieren stehen und reckte seine Arme zum Mond empor. Langsam ließ er sie dann wieder sinken und strich dem einen Pferd über die Blesse. Das zweite schüttelte seinen mächtigen Kopf und schnaubte. Als ob es eifersüchtig wäre, bewegte sich das Pferd auf den Alten zu und streckte ihm seinen Kopf hin, um ebenfalls gestreichelt zu werden. Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Druiden, der nun begonnen hatte, beide Pferde gleichermaßen zu liebkosen. Sein Blick wanderte über den Rücken der Pferde hinunter in das durch das Mondlicht leicht erhellte Tal auf der anderen Seite, dorthin, wo der kleine Fluss herkam, der, nachdem er seinen Weg um den Hügel gefunden hatte, in einer Krümmung an ihrem Dorf vorbeifloss.
Das gütige, dankbar lächelnde Gesicht des Druiden nahm plötzlich einen ernsten Ausdruck an. Seine Augen waren nicht mehr die Besten. Sah er auf der anderen Seite des Flusses Gestalten? Bewegte sich dort etwas? Die Schimmel schienen die aufkommende Unruhe des alten Mannes zu spüren. Noch immer lagen dessen Hände zwischen den Ohren der Pferde. Ruckartig bewegten sich diese Ohren nun nach hinten und nach vorne, als hätten sie etwas wahrgenommen. Der alte Mann blinzelte zum Fluss hinunter. Waren es Tiere, die dort am Ufer ihren Durst stillten? Nein, die würden sich viel langsamer bewegen! Diese Punkte dort bewegten sich jedoch schnell und zielgerichtet. Des Druiden Blick folgte den Schatten, die sich vom Fluss in Richtung Anhöhe bewegten, dorthin, wo tagsüber die Herden der Schafe hingetrieben wurden, und blieb nun unterhalb der gegenüberliegenden Höhe haften. Dort waren die rätselhaften Schatten plötzlich verschwunden, weil der Mond weiter gewandert war und bald die Stelle des Flusses erreicht haben würde, an der auch die Sonne stand, wenn es sehr heiß am Tage war. Die Hand des Druiden rutschte allmählich von den Köpfen der Pferde, über die Blessen bis hinunter zu den Nüstern, die in gleichmäßigen Abständen leichten Dampf ausstießen. Ohne sich zu rühren, starrte der Druide immer nur auf diese eine dunkle Stelle auf der anderen Seite des Flusses, an der die Schatten verschwunden waren. Dort meinte er, eine Bewegung wahrnehmen zu können. Hätte er nur einmal mit den Lidern gezwinkert, er hätte sofort aus den Augen verloren. Als er noch mit in die Kämpfe zog, wie oft schon hatte er da als Späher durch seine Beobachtungsgabe Schlimmes verhüten können. Doch jetzt begannen seine Augen vor Anstrengung zu tränen. Hörte er nun auch Geräusche? Er fühlte ein Beben in sich, das aber nicht von der nächtlichen Kälte