Die beiden Freunde standen auf und schlenderten, ihre Holzschwerter auf den Schultern gelagert, zum Dorf hinunter. Wenn sie doch endlich auch bald ihre eigenen, richtigen Schwerter bekämen oder einen Speer, dann könnten sie mit den Männern ihrer Sippschaft auf die Jagd gehen! Endlich die Kinderspiele hinter sich lassen und wie Männer kämpfen. Sie malten sich die abenteuerlichsten Gefahren aus, die sie dann bekämpfen müssten. Ja, wenn sie erst einmal ihre eigenen Waffen hätten!
Wulfilas Behausung, eine der größten im ganzen Dorf, lag direkt am Versammlungsplatz. Ansgar musste an der Feuerstelle vorbei auf die andere Seite und verschwand hinter einer Hütte, wo seine Familie ein Holzhaus besaß, das nicht ganz so groß wie das seines besten Freundes war. Wulfila schaute ihm noch eine Weile nach. Ansgar war wohl etwas älter als er und für ihn so etwas wie ein Vorbild. Ansgar kannte doch schon so viele Tricks und Techniken des Kampfes. Und erzählen konnte er so, als ob er bei der verwegensten Schlacht dabei gewesen wäre oder aber den stärksten Bär im Kampf mit den bloßen Händen erlegt hätte. Wulfila hörte ihm immer gespannt zu, obwohl er wusste, dass Ansgar die Geschichten doch nur für ihn frei erfand.
Durch die niedrige Tür, die sich beinahe in der Mitte des langgezogenen Baus befand, trat Wulfila ins Haus ein. Rechter Hand lagen die Viehstallungen, die von einem Mittelgang geteilt wurden. Davor, mit Pelzen und Decken belegt, lange Bankreihen, auf denen die Familie sich zur Ruhe legte, in der Nacht der wärmste Ort im Haus. Aus dem Wohnraum zur Linken hörte er Gemurmel und das Knistern des Feuers. Ein feiner, in den Augen beißender Qualm drang durch die Öffnung, vermischt mit dem Duft von gebratenem Fleisch. Wulfila trat ein und begab sich zur Feuerstelle in der Mitte des Raumes. Seine Mutter kniete vor einem Tongefäß, das auf einem am Rande der Glut aus heißen Steinen aufgeschichteten Sockel stand und rührte mit einem Stab darin. Aus Kräutern, Gemüse und Stücken von gebratenem Fleisch kochte sie eine kräftige Suppe. Großmutter drehte das Kaninchen über der offenen Flamme. Seine kleine Schwester, Helmgard, hockte, einen Holznapf in den Händen, erwartungsvoll neben der Mutter, die ihr mit einer Kelle etwas Suppe in das Gefäß füllte. Mutter murmelte ihr das Rezept dieser kräftigen und wohlschmeckenden Speise zu, in der Hoffnung, dass auch ihre Tochter einmal eine gute Köchin werden würde, gerade so wie sie selbst. Zumindest behaupteten dies andere von ihr, hatte sie doch auch bisher die vielen hungrigen Mäuler ihrer Familie stopfen können.
Man wartete noch mit dem Essen. Vater war schon am frühen Morgen mit anderen Mitgliedern des Stammes zur Jagd in die nahen, das Dorf umgebenden Wälder aufgebrochen. Jetzt, wo es schon dunkel war, würden sie sicherlich bald zurückkommen und mit Glück auch noch einen großen Braten mitbringen, der für den bevorstehenden Winter so wertvoll und notwendig sein würde.
Stimmen wurden draußen laut. Wulfila sprang auf und ging zur Türe, gefolgt von seiner Schwester, die rasch ihre kleine Schüssel abstellte. Mutter schaute den beiden nur kurz nach und wandte sich wieder ihrem Kochgefäß zu. Auch Großmutter blickte kurz auf und drehte dann wieder bedächtig ihr Kaninchen über dem Feuer. Die Männer kamen von der Jagd zurück. Die Stimmen, die die Ankömmlinge draußen eben noch so freudig begrüßt hatten, verstummten nach und nach. Wulfilas Schwester kam plötzlich aufgeregt wieder in die Stube gelaufen und rief, dass Vater verletzt sei. Mutter sprang aus ihrer Hockstellung auf und auch die Großmutter erhob sich rasch, wenn auch schwerfällig, um nach draußen zu kommen. Vater lag auf ein paar zusammengebundenen, knochigen Ästen und blutete stark aus einer tiefen Wunde am Oberschenkel. Mutter lief sofort zu ihm hin und kniete sich neben ihn auf den Boden, nachdem die Träger ihn abgesetzt hatten. Mit ein paar Handgriffen riss sie die ohnehin schon zerrissene Hose auf, um die ganze Wunde frei zu legen. Vaters Gesichtsausdruck war starr. Man konnte sich ausmalen, dass er große Schmerzen haben musste. Ein angestochener Keiler wäre mit seinen Hauern auf ihn losgegangen, erzählten die Jäger. Beim Ausweichen sei er mit seinem Schuhwerk an einer Wurzel hängen geblieben und rücklings auf den Boden gefallen. Im Todeskampf musste das Wildschwein eine enorme Wendigkeit entwickelt haben. Auf kürzestem Raum habe sich der Keiler umgedreht und sei wutschnaubend auf den am Boden liegenden eingedrungen. Mit voller Wucht habe er seine riesigen Zähne in den Oberschenkel seines Widersachers gerammt. Vater hätte kurz aufgeschrieen und sich an die blutende Wunde gefasst. Schon wären die übrigen Jäger mit ihren Speeren zur Stelle gewesen, um sie in das quietschende Tier zu stoßen, das sich gerade anschickte, den Vater von der anderen Seite zu attackieren. Tot sei der Keiler daraufhin neben dem Vater zusammen gebrochen.
Mutter wies die Männer an, den Vater in die Hütte zu schaffen. Sie legten ihn auf eine mit Fellen gepolsterte Bank in der Nähe des Feuers. Mit einem Stück Stoff begann die Mutter, die Haut um die Wunde herum zu reinigen. Sie rief Wulfila zu, er solle zum Druiden laufen und ihn bitten, hierher zu kommen. Großmutter schaute unverwandt auf die nun immer schwächer blutende Wunde am Bein ihres Sohnes. Sie murmelte unverständliche Worte leise vor sich hin und hielt dabei die Handflächen ihrer Hände leicht nach oben. Sie drehte sich langsam vom Krankenbett weg und ging, die Hände immer noch erhoben, zu der Stelle im Stall, an der sie zu schlafen pflegte. Unter ein paar Fellen und Tüchern holte sie ein kleines Säckchen hervor, kam zurück und kniete sich in der Nähe der Feuerstelle nieder. Mit der flachen Hand, so als wolle sie den Boden streicheln, wischte sie eine Stelle vom losen Sand frei, bis der lehmige, feste Boden zum Vorschein kam. Ihr Gemurmel wurde immer lauter. Fast schien sie zu stöhnen. Ihre Augen stierten auf einen imaginären Punkt, als wolle sie Aug in Aug mit den Göttern sprechen. Sie öffnete das kleine Säckchen und griff mit der Hand hinein. Sie hielt kleine Knochen, verdorrte Ästchen und Steinchen zwischen den Fingern. Für einen Augenblick behielt sie die Utensilien noch in ihrer Hand. Ganz langsam senkte sie den Arm, die Handfläche öffnend nach oben, dann hob sie den Arm wieder an, als wolle sie das Gewicht in ihrer Hand bestimmen. Mit einem plötzlichen Ruck dreht sie die Hand nach unten und warf deren Inhalt auf den zuvor geglätteten Boden. Steine, Knochenreste und Hölzer fielen wild durcheinander, blieben über- und nebeneinander liegen und formten sich dabei zu einem undurchschaubaren Bild. Jetzt erst senkte sich der Blick der Großmutter langsam zum Boden, um den kleinen Haufen vor sich zu betrachten. Mit sanften Augenbewegungen tastete sie das Muster vor sich auf dem Boden ab. Bis auf Mutter und Helmgard, die immer noch bei dem unterdrückt vor sich hinstöhnenden Vater knieten und ihm den Schweiß von der Stirne wischten, stand die übrige Familie um die alte Frau an der Feuerstelle herum und sahen fasziniert ihrem unheimlichen Treiben zu. Wusste doch jeder, dass die Großmutter, wie alle alten Frauen im Dorf, über besondere Kräfte verfügte. Ihr Können und das Wissen des Druiden hatte ihnen schon viel Kummer vom Dorf fern gehalten, aber auch verletzte Krieger gesund gemacht - wenn Odin es denn so wollte. Gespannt sahen alle in das fast versteinerte, von tiefen Furchen des Alters durchpflügte Gesicht. Die Alte begann wieder ihr Gemurmel. Sie schaute abwechselnd auf das Häuflein vor sich auf dem Boden, dann zum Vater und dann dorthin, irgendwo in den Raum, wo sich die Götter befinden mussten. In diese spannungsgeladene Stille hinein kam Wulfila mit dem Druiden zurück. Gemächlich schritt der alte, weise Mann mit dem wallenden, weißen Haar zum Verletzten hin. Sein Blick war auf die tiefe Wunde gerichtet, deren Blutung zum Stillstand gekommen war und sich nun von dunkelrot bis schwarz färbte. Vaters Körper zitterte vor Schmerzen. Solche Schmerzen hatte er schon lange nicht mehr erlebt. Als kampferprobter Krieger hatte er schon häufig Stiche und Hiebe abbekommen, die ihm am ganzen Körper Narben hinterließen. Doch die meisten Verletzungen wurden ihm mit scharfen Waffen zugebracht. Schnittwunden im Fleisch waren zwar schmerzhaft, aber leichter zu behandeln. Mitunter half einfach nur ein fester Verband um die Wunde. Doch sein Bein wurde regelrecht aufgerissen und die Wundränder waren nicht so glatt wie nach einem Kampf.
Am Gürtel des Druiden hing ein kleiner Beutel aus braunem Leder. Zur Mutter hingewandt verlangte er nach heißem Wasser. Seine Hand holte aus dem Säckchen getrocknete Gräser und kleine, rote Früchte heraus. Mit beiden Händen zerrieb er die Kräuter, teilte sie danach auf beide Handflächen auf und hielt sie dicht aneinander,