Verschwommen sah er das Gesicht seiner Mutter, die sich über ihn gebeugt hatte. In ihrem tränennassen Gesicht spiegelte sich flackerndes Licht. Hatte er denn so lange geschlafen? Warum schmerzte ihn sein Gesicht so sehr? Er lag doch nicht in der Hütte! Langsam konnte er die Konturen seiner Mutter immer besser erkennen. An ihrem Kopf vorbei sah er in den Sternenhimmel. Der Blick wurde aber durch Rauchschwaden immer wieder getrübt. Wulfila vernahm Brandgeruch. So roch es, wenn die Stammesältesten am Versammlungsplatz um das knisternde Feuer saßen. Doch dieses Knistern war lauter. Nach und nach ließ das Dröhnen in Wulfilas Kopf nach und er vernahm Schreie von Frauen und Kindern. „Was ist geschehen?“ ging es ihm durch den Kopf. „Römer!“ Unvermittelt sprang Wulfila auf, so dass die Mutter fast rücklings zu Boden fiel. Römer waren im Dorf – hatten das Dorf überfallen. Ihm wurde schwindelig - und plötzlich speiübel. Wulfila sackte auf die Knie nieder, stützte seinen gesenkten Kopf auf seine Hände auf und übergab sich. Er bemerkte, dass er in seinen Zähnen eine Lücke hatte und plötzlich spürte er auch den Schmerz am Mund und auf der Nase. Mit der einen Hand tastete er behutsam sein Gesicht ab. Auf seinem Handrücken bildete sich ein roter Streifen, als er sich über die Nase fuhr. Neben ihm stand seine Mutter, legte ihre Hand auf seine Schulter und rüttelte ihn leicht. Immer noch auf den Knien hockend blickte er zu ihr auf und sah in ihr schmerzvolles Gesicht. Tränen liefen ihr immer noch die Wangen herunter. Langsam erhob sich Wulfila und blickte an der Mutter vorbei in die Richtung, in der die Hütte seiner Familie stand. Er sah aber nur noch ein paar aufrechtstehende Eichenbalken, die, am oberen Ende noch leicht glühend, kleine Rauchschwaden in den dunklen Nachthimmel sandten. „Großmutter!“ schoss es ihm durch den Kopf. Er rannte los. Mutter wollte ihn noch zurückhalten, aber mit ein paar Sprüngen stand Wulfila dort, wo vormals der Eingang zu seinem Zuhause war. Nun konnte er über die verkohlten Balken hinweg in den Wohnraum schauen. Großmutter lag noch so, wie er sie zuletzt in Erinnerung hatte, um die Feuerstelle herum. Nur, dass jetzt das ganze Haus eine riesige Feuerstelle war. Unter seinen Füßen wurde es warm, als er ganz behutsam ein paar Schritte zu der am Boden kauernden Gestalt wagte. Es roch nach Feuer und verbranntem Fleisch. Wulfila konnte die Hände der alten Frau erkennen, krallenartig in den Boden gedrückt. Auch Beine, den Körper und den Kopf konnte er noch ausmachen. Er begann zu zittern. Mit wutverzerrtem Gesicht drehte er sich langsam um und sah den Kopf seiner Mutter über die Balkenreste blicken. Ein ohrenbetäubender Schrei entfuhr ihm, überdeckte das Geräusch der knisternden Häuser, rufenden Müttern und schreienden Kinder. Wulfila schrie seine Trauer aus sich heraus; vermischt mit Wut und Zorn über diese Unheil bringenden Römer.
Langsam schritt er wieder zum Eingang hinaus und bemerkte aber, als sein Blick noch einmal durch die Trümmerreste schweifte, das dort, wo sich die Gatter für die Tiere befanden, kein totes Schaf, kein verbranntes Kalb lag. Hatte Vater die Tiere noch gerettet? Nein, Vater war doch...! Er sprang über einen querliegenden Stamm aus dem verkohlten Haus heraus und wandte sich zur Mutter, die immer noch auf das Häuflein Asche an der Feuerstelle stierte. „Wo ist Vater?“ wollte er wissen. Langsam drehte sie ihren Kopf in Richtung Waldesrand. Wulfila folgte ihrem Blick und sah in einiger Entfernung Sippenmitglieder, die zwischen einer Vielzahl von auf der Erde Liegenden umherirrten. „Helmgard!“ schluchzte die Mutter. „Helmgard!“ Immer wieder rief sie den Namen ihrer Tochter und schaute dorthin, wo sich der Fluss in Richtung Feindesland entlang schlängelte. „Helmgard!“ Erst jetzt langsam dämmerte es Wulfila! Er sah noch die Sandale auf sich zusausen. Beim Hinstürzen hatte er noch das grinsende Gesicht des Römers auf dem Ross gesehen und vor ihm, kopfüber nach unten baumelnd, Helmgard, seine Schwester! Als wolle er dem Reiter nachstürzen, rannte er los in Richtung Fluss. Er hörte noch die Mutter rufen. Aber er musste doch seine Schwester zurückholen! Seine kleine Schwester! Wulfila lief und lief, bis er an die Stelle des Flusses kam, an der man ihn im flachen Wasser überqueren konnte. Hier brachten sie ihre Viehherde über das Wasser auf die andere Seite zur Weide. Er lief noch die kleine Anhöhe hinauf. Dort blieb er stehen und versuchte, in der Dunkelheit noch seine Schwester auf dem Pferd des Römers auszumachen. Nichts! Nur Schwärze und das leise, friedliche Geplätscher des Flusses.
Als er sich umdrehte, sah er das ganze Ausmaß des Unheils, das die Soldaten über seine Sippe gebracht hatten Kein Haus hatte mehr ein schützendes Dach. Gespenstig flackerte das Licht des Feuers durch das Tal. Zwischendurch sah man Menschen von Haus zu Haus laufen. Hundegebell konnte er hören und schreiende Weiber. Wulfila setzte sich in das nachtfeuchte Gras und stierte zu seinem Dorf hinüber. Ein kühler Luftzug, der vom Wasser her kam, ließ ihn erzittern. Wut stieg in ihm auf. Ich werde die Römer bekämpfen und besiegen, schwor er sich und hob beide Hände langsam in den dunklen Himmel. „Großmutter, Helmgard!“ Er schrie. „Ich werde euch rächen!“ Er schlug die Hände vor sein Gesicht und legte es auf die angewinkelten Knie. Ein Schütteln ging durch seinen Körper. Erst in kurzen Abständen, dann immer häufiger. Wulfila weinte.
Kapitel V
Helmgards Rippen schmerzten. Bereits seit geraumer Zeit saß sie aufrecht auf dem Rücken des Schlachtrosses, umklammert vom Arm des hinter ihr sitzenden, fürchterlich nach Schweiß stinkenden, römischen Soldaten. Sie wusste nicht mehr, wie lange sie bäuchlings und ohnmächtig über dem Pferd gelegen hatte. Ihr Kopf pochte. Besonders tat ihr der Hals an der Stelle weh, an dem ihr der Soldat den Schlag verpasst hatte. Wie lange sie wohl ohnmächtig gewesen war? Die Sonne stand schon recht hoch am Himmel – aber immer noch hinter ihr und dem stinkenden Römer. Was geschah mit ihr und was würde geschehen? Sie hatte panische Angst. Immer wieder musste sie an ihre Mutter denken. Wie in Trance stammelte sie ihren Namen. „Hilf mir! Ich will zurück!“ Wohl müde vom langen Reiten senkte sich der Kopf des Römers fast ruckartig auf ihre Schulter. Im gleichen Moment machte Helmgard eine abweisende, schüttelnde und angeekelte Bewegung, so dass sein Kopf mit einem Ruck noch tiefer sackte und er, wie von einem Blitz getroffen, sich wieder aufrichtete. Manchmal konnte sie sein Gesicht erkennen. Ein hässliches, vor Schweiß und Dreck triefendes Gesicht. Seinen Helm hatte er immer noch auf, als wolle er sich vor eventuellen Schlägen des Mädchens schützen. Sein Kopf war zu groß für diesen Helm. Am Ohrenschutz und an der Stirn quoll die Gesichtshaut regelrecht hervor. Es musste ihm sicherlich unangenehm sein, diesen fast verrosteten Kopfschutz aufzubehalten. Aber er behielt ihn an.
Helmgards Haare hingen zottelig in langen, gebündelten Strähnen von ihrem bleichen Kopf herunter. Sie fror. Hatte sie doch nur das grob gewebte Hemd an, das sie nur im Haus und zum Schlafen trug. Ihre Beine waren nackt. An einem Fuß trug sie noch eine Sandalette, die ihr Vater aus dem Leder einer Hirschkuh gefertigt hatte. „Vater! Vater hilf mir“, flehte sie innerlich. Sie verspürte im gleichen Moment einen Druck in der Magengegend. Ihr wurde wieder schlecht. „Was macht der Mann mit mir? Wohin bringt er mich? Ich will nicht!!“ Den Kopf gesenkt, wagte sie einen Blick zur Seite. Im