„Wo bin ich?“ fragte sie sich. Als sie ihren Blick langsam wieder nach vorne richtete, sah sie zwischen grünen Flächen und ein paar Baumgruppen etwas glitzern. „Wasser!“ dachte sie bei sich. „Ist dort unser Wasser?“ Nun merkte sie, dass ihr Mund und ihre Lippen wie ausgedörrt waren. Sie hatte Durst. Das glitzernde Wasser kam immer näher. Es wurde größer und größer. So weit das Auge reichte – ob sie nun in die Richtung der Schafe und Rinder schaute oder aber in die andere – Wasser. Aber dahinter konnte sie schon wieder grünen Boden und dunkle Waldränder erkennen. „Rhenus Fluvius“ – merkwürdige Laute drangen plötzlich von hinten an ihr Ohr. Sie blickte zurück und schaute dem feisten Soldaten ins Gesicht. Er schien sich über etwas zu freuen. „Rhenus Fluvius“ stammelte er wieder. Dann schrie er auf und schaute an sich und dem Pferd herunter, denn Helmgard hatte sich urplötzlich übergeben müssen. Gleichzeitig ließ sie ihrem Urin freien Lauf. Des Römers nackte Füße wurden mit gelblichem, warmen Erbrochenem bedeckt. Ihr Urin lief am ohnehin schweißnassen Pferd in breiten Bahnen herunter. Angeekelt stieß der Soldat das Mädchen abrupt vom Pferd herunter. Helmgard fiel unsanft auf den Rücken und schrie auf. Der Soldat sprang hinterher und schüttelte angewidert seine Füße und klopfte wie wild auf seinem mit Lederstreifen bedeckten Rock herum.
So kurz vor dem Ziel! Vetera war schon auf der anderen Seite des Flusses zu sehen. Und jetzt noch das!! Voller Zorn zog er aus seiner Satteltasche einen Riemen und band ihn um Helmgards Hals. Immer noch angewidert schwang er sich wieder auf sein Pferd und gab ihm die Sporen. Helmgard, die seitlich stand, strauchelte und fiel hin. Ihre Hände griffen an die Schlinge, die um ihren Hals lag. Sie würgte. „Was macht der mit mir?“ ging es ihr durch den Kopf. Das Pferd trottete indes weiter. Mit Mühe kam Helmgard wieder auf die Beine. Mit schnellen Schritten lief sie sich neben dem Pferd her. Ihr Hals schmerzte. Ihr Bauch schmerzte. Aber nichts gegen den Schmerz, den ihre Seele verursachte. „Ich will zu Mutter, zum Vater, zu meinem Bruder – zur Großmutter. Ich will zurück ins Dorf. An das Wasser, in die Wälder. Modar, bitte, Modar! komm, hilf mir! Was macht dieser fremde Mann mit mir? Wo bin ich? Ich will zu euch! Wo seid ihr? Ich bin so alleine. Modar!!“
Der große Fluss kam immer näher. Helmgards ohnehin schmerzenden Füße stießen immer wieder an kleinere und größere Steine, die, je näher sie dem Wasser kamen, immer größere Flächen des Bodens bedeckten. Dazwischen ein paar grüne Stellen mit halb hohen Gräsern, deren scharfkantigen Blätter kleine Risse in ihre Waden schnitten. Der Boden wurde feuchter und tat ihren geschundenen Füßen gut. Helmgard hörte Rufe hinter sich und der Soldat zügelte sein Pferd. Fast elegant schwang er sein linkes Bein über dessen breiten Hals, um seitwärts vom Gaul zu rutschen. Fast wäre er noch auf das Mädchen neben ihm gesprungen. Helmgard wich erschrocken zur Seite und stand nun, den Soldaten ängstlich anschauend, hinter dem Pferd, das sofort, nachdem sein Herr es gezügelt hatte, den Kopf beugte und das grüne, feuchte Gras zu zupfen begann. Der Soldat räkelte sich, drückte seine beiden Hände in die Hüfte und drückte sein Becken genüsslich nach vorne und nach hinten. Helmgard vernahm ein deutliches Knacken aus dem massigen Körper des Römers. Waren es die geschundenen Knochen oder aber die Befestigungsschnallen der Rüstung, die so knackten und ächzten? Langsam drehte der Soldat seinen Kopf zum Wasser hin.
Einen solch großen Fluss hatte Helmgard noch nie gesehen! Kleine Boote kannte sie von zuhause. Wulfila und waren oft genug zusammen mit dem Vater auf dem kleinen Fluss gefahren, der sich an ihrem Dorf vorbeischlängelte. Einmal waren sie soweit von ihrem Dorf entfernt, dass sie erst in der Dunkelheit - mit größter Kraftanstrengung – das heimische Ufer erreichten. Zu schön war der Tag. Nur die Richtung haltend, ließen sich die drei im Boot treiben. Vater konnte die spannendsten Geschichten erzählen, die er und sein Vater bei der Jagd nach Wildschweinen und Hirschen erlebt hatten. Vor lauter Spannung vergaßen sie die Zeit. Erst als die Büschen und Bäumen am Ufer von der untergehende Sonne immer mehr Schatten auf das dahindümpelnde Boot warfen und es den Insassen immer kühler wurde, merkten sie, dass sie schon weit von ihrem Heimatdorf entfernt waren. Angst hatten sie keine, denn Vater war bei ihnen. Selbst diese Gegend kannte er noch. Wulfila und seine Schwester jedoch waren bis hierin noch nie gekommen. Vater und Wulfila mussten sich mächtig anstrengen, um das kleine Boot mit vereinten Kräften wieder gegen die Strömung zu bringen. An manchen Stellen des Flusses, an denen sie mit ihrem Kahn sehr dicht ans Ufer kamen, waren Vater und Wulfila kurzerhand ans Ufer gesprungen und hatten das Boot an langen Seilen gezogen. Dem Mädchen machte es großen Spaß, den Männern bei der kraftraubenden Arbeit zuzusehen. Mit aufmunternden Rufen versuchte sie sogar noch, das Tempo der Ziehenden zu erhöhen. Wulfila warf ihr, immer wenn er über seine Schulter schaute, einen wütenden Blick zu, dessen Ernsthaftigkeit aber seine leuchtenden, blauen Augen im gleichen Moment wieder Lügen straften.
Das Pferd mit der einen Hand am Halfter führend, in der anderen das Lederband, dessen Ende mit der Schlinge um Helmgards Hals lag, bestieg der Römer ein langes, flaches Boot, das an einem Holzsteg festgemacht war. Solche Boote hatte Helmgard noch nie gesehen! Auf Vaters Boot konnten nur er und die Kinder mitfahren. Manchmal passte auch noch Mutter mit darauf. Dann mussten sie alle aber ganz ruhig sitzen, damit es nicht umkippte. So ähnliche Boote gab es hier auch an dem großen Fluss, den der Soldat ´rerus fluffus´ nannte. Aber auf diesem Boot konnten sogar Pferde mitfahren und Karren und ganz viele Männer. Nur Männer! Dachte Helmgard. Frauen wie Mutter oder Großmutter oder Mädchen hatten diese Römer wohl nicht. Zusammen mit dem Pferd brachte sie der Soldat in den vorderen Teil des Bootes. Zwischen Schafen, ein paar Strohballen, Eseln und Soldaten bekam sie ihren Platz zugewiesen. Scheu blickte sie über den flachen Bootsrand zur gegenüberliegenden Seite des breiten Stromes. Das Wanken des Bootes wurde immer heftiger, je mehr Soldaten mit ihren Pferden und Händler mit voll beladenen Eselskarren auf den Kahn kamen. Helmgard fröstelte. Die Sonne stand schon auf der anderen Seite des Wassers. Sie spürte, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sich die Dunkelheit über diesen grauenvollen Tag legte. Wie lange war sie nun schon von ihrem Dorf fort? Wie ging es Mutter und Vater? Wie ging es Großmutter? Was machte Wulfila? Helmgard hätte am liebsten geweint. Wie gut tät es ihr jetzt, wenn sie doch nur weinen könnte! Die Angst, die pure Angst versagte ihr die Tränen. Vom Bootsheck hörte sie eine Männerstimme etwas für sie Unverständliches rufen. Ein Mann, der eine Handkarre hinter sich herzog, durfte nicht mehr mit auf das Floß. Mürrisch, ein paar ebenso unbekannte Laute vor sich hin murmelnd, schob er seinen voll beladenen Wagen wieder zurück, dorthin, wo in einer langen Schlange noch andere Händler, Soldaten, Pferde und Viehherden darauf warteten, mit einem der nächsten Boote über das Wasser gebracht zu werden.
Zwei grobschlächtige Männer lösten an der Seite des Schiffes zwei Taue, die um Pflöcke am Ufer geschlungen waren und warfen sie auf die Planken. Mit einem Satz sprangen sie den Seilen nach. Das flache Boot begann, beängstigend zu schaukeln. Einige der Männer machten daraufhin ihrem Ärger durch lauten Protest Luft. Von diesen Unmutsäußerungen erschreckt, fingen ein paar Pferde an zu wiehern und versuchten, zu scheuen. Doch die Fährmänner kannten die Gefahren schon, die von wild gewordenen Gäulen ausgehen konnten, und banden sie mit kurzen Stricken am Schiffsboden an. Helmgard hielt sich krampfhaft an der flach erhöhten Schiffswand fest. Neben ihr hockte ihr Peiniger, den Helm als Sitz nutzend. Nun sah sie zum ersten Mal den Römer ohne Kopfbedeckung. Deutlich waren noch die Ränder des viel zu engen Helmes zu sehen, der sich in seine Stirn und seitlich an den Ohren in seine Haut geprägt hatte. Der Mann hatte ganz dunkle, gelockte kurze Haare. Der Schweiß ließ sie im Schein der untergehenden Sonne glänzen. Er stierte vor sich hin und biss, den Blick auf einen imaginären Punkt am Schiffsboden geheftet, in ein flaches Stück Brot, das er sich aus einem Beutel holte, den er an einem ledernen Gurt befestigt hatte. Helmgard verspürte nun auch Hunger. Noch mehr aber dürstete es ihr. Waren es ihre blauen Augen, die aus dem kleinen, verschmutzten Gesicht auf das Stückchen