Wie ein Stein im tiefen Wasser. Ian Malz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ian Malz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847627067
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gekommen, verschlang sie es gierig. Als sie den letzten Bissen heruntergeschlungen hatte, befand sich das Boot mit den vielfältigen Passagieren schon etwa in der Mitte des Flusses. Die beiden Schiffsführer standen am hinteren Ende und stießen kraftvoll lange Stangen ins Wasser. Das Wasser schien nun immer tiefer zu werden. Die Stangen fanden keinen festen Grund mehr, an dem die beiden Ruderer das Boot vorwärts stoßen und die Richtung halten konnten. Dort, wo die Fährmänner die Stangen ins Wasser gleiten ließen, waren Führungen in der Bootswand eingelassen. Dorthinein legten sie nun die Hölzer und nutzten sie als Steuerung. Das Mädchen blickte in Fahrtrichtung über die Bootskante hinweg auf die vor ihnen liegende Uferseite. Nicht weit entfernt vom Ufer konnte sie einen Wald erkennen. Nicht so groß und mächtig wie der Wald, der ihr Dorf umgab. Dazwischen standen Hütten. Auch diese sahen so ganz anders aus. Viel größer als ihre, zuhause. Sie bemerkte, wie sich das Boot mit der Flussströmung langsam an der Landschaft vor ihr dahin schob. Hinter diesen Hütten, deren Dächer gar nicht aus Stroh und Gras waren, sondern so leuchteten, als hätte man sie mit Blut eingeschmiert, tat sich eine Wand auf, die wie ein Wald ohne Äste und Blätter aussah. Auch standen die mächtigen Bäume dicht an dicht, so dass man nicht hindurch sehen, geschweige denn herumlaufen konnte. In Abständen standen auf den Bäumen kleine Häuser. Helmgard hatte so etwas noch nie gesehen. Ein wenig erinnerte sie dies Gebilde an ihr Dorf. Dort hatte man auch Stangen im Boden vergraben, um damit die Schafe und Rinder beim Dorf zu halten, wenn sie am Ende des Tages von den Feldern zurückgeführt wurden. Jetzt begann sie zu begreifen! Dahinter mussten große Tiere sein! Noch viel größer als die in ihrem Dorf! Und viele mussten es sein! Denn dieser Wald aus dichten Bäumen ging am ganzen Fluss entlang bis zu der sanften Biegung, der sich nun das Boot näherte. Fast hatten sie schon das Ufer erreicht. Helmgard sah ganz deutlich eine Stelle am Ufer, wo das Schiff anlegen würde. Aus der Richtung des langen Zaunes führte ein heller Streifen zum Wasser hin, ein Streifen, wie er entstand, wenn man immer wieder das Gras herunter trat. Im Dorf konnte man ganz genau solch einen Streifen sehen, nämlich dort, wo der Druide immer zu den beiden Schimmeln ging. Und dort durfte immer nur er gehen. Genau so ein Pfad kam ihnen vom Zaun entgegen. Nur viel, viel größer. Pferde konnten Wagen darauf ziehen. Mehrere Soldaten gingen nebeneinander darauf entlang. Das Bild, das sich ihr nun auftat, wurde immer größer und beängstigender.

      Knirschend rutschte der schwerbeladene Kahn auf das steinige Ufer. Helmgard, der Soldat und das Ross mussten das Boot zuerst verlassen. Die übrigen Mitfahrer drängelten so sehr, dass Helmgard auf dem steinigen Boden den Halt verlor und stürzte. Sie jammerte auf, als sie mit den Knien auf einen faustgroßen Stein aufschlug. Trotz des Schmerzes, der ihren Körper durchzuckte, wunderte sie sich noch über diese glatten und großen, kugelförmigen Steine. Bei ihrem Dorf, wo der Fluss die Biegung zur untergehenden Sonne machte und Vater und die anderen Männer des Dorfes das Vieh über den Fluss zur Weide brachten, dort gab es auch runde. glatte Steine, manche so flach, das sie übers Wasser sprangen, wenn man sie nur flach genug warf - Wulfila konnte es am besten - doch diese Steine hier waren so groß, dass sie sie gerade einmal mit zwei Händen hätte umfassen können. Wulfila! Plötzlich durchfuhr es das Mädchen. Noch immer auf den Steinen kniend, fasste sie sich an die Brust. „Da ist es!“ Diese Erkenntnis glomm in ihren Augen auf. Unter ihrem grob geschneiderten und an einigen Stellen zerrissenen Gewand ertastete sie etwas Hartes, Rundes. „Ich habe es immer noch“, dachte sie bei sich. Mit der ganzen Hand ergriff sie dieses Etwas unter ihrem Gewand und rieb es mit allen Fingern. „Lass es dort, wo es ist“, befahl sie sich selbst! Keiner durfte es sehen, keiner durfte es ihr wegnehmen! Das, was sie unter ihrem Gewand auf der Brust trug, war die letzte Verbindung zu ihrer Familie, zu Wulfila!

      Helmgard verspürte einen Schmerz am Hals. Mit Wucht riss der Römer das Mädchen an dem immer noch um ihren Hals befestigten Lederriemen wieder auf die Beine. Helmgard musste würgen, so sehr schnürte sich das Leder in ihre zarte Haut. Mit beiden Händen versuchte sie, den Zug um ihren Hals zu lockern, was ihr auch gelang. Der Soldat zog sie aber unsanft weiter, so dass sie fast wieder den Halt verlor. Das Pferd an der einen und das Mädchen an der anderen Hand marschierte er den leicht ansteigende Weg vom Ufer hinauf zu den Staketen, die dem Mädchen immer noch wie ein Wald ohne Äste und Blätter vorkam. „Was mag wohl in dem Wald sein?“ dachte sich Helmgard. Sie sah so viele Menschen und Tiere dorthinein gehen - und auch viele wieder hinaus. Sie überquerten einen Wall aus mit Gras bewachsener Erde, Büschen und Steinen, die man am Flussufer zuhauf fand. Durch einen Einschnitt führte der Weg über eine Ebene, die die Ausmaße des Versammlungsplatzes in ihrem Dorf hatte. Helmgard schaute aus den Augenwinkeln seitlich and dem Soldaten und dem Pferd vorbei und sah, dass die Erhebung, die sie durchschritten hatten, von der anderen Seite genauso bewachsen war, wie von der Flussseite her. Als sie ihren Blick wieder nach vorne richtete, erschrak sie fast vor der Mächtigkeit der hölzernen Stämme, denen sie nun schon ganz nah waren. Vom Fluss her hatte der aufgeschüttete und zugewucherte Wall einen Teil des Blickfeldes verstellt. So hoch mussten die beiden Steine sein, bei denen sich die Stammesfürsten zum großen Thing trafen und von denen Vater oft erzählt hatte.

      Der Weg, der sie vom Fluss aus geradewegs zu dieser Wand aus Stämmen führte, wurde etwas schmaler. Vor ihnen tat sich eine große Öffnung auf, die im oberen Teil mit einem Steg verbunden war. Darauf sah Helmgard Soldaten hin und her gehen, die das Treiben unter sich genau beobachteten. Der Weg der beiden Soldanten war so bemessen, dass sie sich in der Mitte über der Öffnung trafen und ein paar Worte wechselten, um dann, aneinander vorbeigehend, sich jeweils der anderen Seite zuzuwenden. Dort befand sich, wie Helmgard feststellte, jeweils eine dieser kleinen Hütten, die ihr schon vom Fluss aus aufgefallen waren. Anders als in ihrem Dorf hatten diese Hütten aber nur ein Dach, keine Wände. Hier waren nicht Äste und Zweige aus den Wäldern und Schilfgräser vom Fluss so kunstvoll miteinander und den übrigen Hölzern der Hütte verbunden, dass sie so manchem Sturm standhielten und wenn der Regen in weißen Blättern sich darauf niederlegte, die Bewohner vor Kälte und Nässe schützten. Diese Dächer auf den Hütten ohne Wände bestanden aus roten, in gleichen Abständen verlegten Steinen, die aber noch dünner waren, als die, die man über das Wasser springen lassen konnte. Helmgard hatte zuvor noch nie solche Steine gesehen! Nun fiel ihr auch auf, dass der eine Soldat, als er dem anderen über der großen Öffnung begegnete, seinen Blick aus den offenen Wänden in alle Richtungen schweifen ließ. Wie unsere Jungen aus der Sippe, dachte sie bei sich, nur kletterten die flink, wie die kleinen Baumtiere, in die höchsten Wipfel am Rande des Dorfes, um nach Feinden oder anderen Bedrohern Ausschau zu halten.

      Der Strom aus Soldaten, Tieren und Karren, aber auch Männer, Frauen und Kindern wurde, je näher sie zum Tor kamen, immer dichter. Der Soldat zog Helmgard am ledernen Band dicht an sich heran, als wolle er seine Beute vor den vielen Menschen schützen. Sie blickte ängstlich zu ihm hinauf. Sie stieß sich an einem aus dem Boden herausragenden Stein den Fuß. Wieder schrie sie vor Schmerz kurz auf und sackte auf die Knie. Ein Ruck an ihrem Hals lies sie sich jedoch schnell wieder erheben. Der Soldat murmelte ein paar Worte und beschleunigte seinen Schritt. Eilig folgte sie dem Lederband, mit dem der Soldat dem Mädchen das Tempo und den Weg anzeigte. Helmgard humpelte. Nun hatten sie die Mauer aus Baumstämmen hinter sich gelassen und erreichten ein Dorf. Auch hier bestanden die Dächer aus roten Steinen. Manche Dächer leuchteten wie die Sonne, wenn sie abends hinter der Flussbiegung eine andere Farbe annahm. Manche Dächer sahen dagegen so aus, als habe man Sand darauf verstreut. Auch hatten alle diese Hütten Wände und es war auch kein Soldat zu sehen, der sie beobachtet hätte. Die Wände schienen nicht aus Baumstämmen und Flusslehm zu bestehen, wie zuhause. Helmgard hatte den Eindruck, als seien sie nur aus Lehm. Trotz ihrer Angst, ihrer Verwirrung und ihrer schmerzenden Füße blickte sie sich staunend um in dieser erstaunlichen, für sie vollkommen neuen Welt. Dicht an dicht standen die Hütten beieinander. Vor manchen saßen Frauen in bunten Gewändern und putzten Gemüse. Aus anderen Hütten kamen laut juchzend Kinder herausgelaufen, um in Richtung des großen Tores zu verschwinden. Schnell schien es sich herumgesprochen zu haben, dass wieder Soldaten und Händler aus dem dunklen Land der Germanen eingetroffen waren. Oft genug brachten sie Beute und Waren mit, die dann auf dem großen Platz in der Mitte der Stadt feilgeboten wurden. Auf dem holprigen Weg vom Fluss zum Wall hinauf fielen mitunter Früchte oder Gemüse von den Karren, die in aller Eile von den Kindern aufgesammelt wurden. Die Händler versuchten mitunter, die kleinen Diebe mit dem Stock zu vertreiben. Die nutzten aber die Gelegenheit und stahlen dort, wo der Händler nicht hinguckte, den