Zwielicht 11. Michael Schmidt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Schmidt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783746734484
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ihn stets ein leichtes Spiel, Menschen kennenzulernen. Besondere emotionale Bindungen vermochte er aber über all die Jahre nie auf Dauer aufzubauen, sei es privater oder beruflicher Natur. Warum sollte er auch? Henry McMillan hatte alles, was er wollte und noch mehr. Die Popularität seiner Sendung Shut Up and Talk!, die als Hörfunk in der Nachtschiene eines eigentlich kleinen Senders namens Bay FM in Galway und Umland ausgestrahlt wurde, hatte sich vor allem durch die Aufzeichnungen auf YouTube in den letzten zwei Jahren geradezu überschlagen und wurde als Geheimtipp gehandelt. Mittlerweile wurde die Sendung auch als Podcast angeboten und sollte demnächst landesweit als Pilotprojekt ausgestrahlt werden. Der Fernsehsender TV3 hatte bereits Interesse durchscheinen lassen, dass man bei einer erfolgreichen, landesweiten Zuhörerschaft ein Angebot unterbreiten könnte, welches es McMillan ermöglichte Shut Up and Talk! ins Fernsehen zu bringen – ebenfalls mit ihm als Moderator. Der Gipfel seiner Karriere oder erst Durchbruch zu noch weitaus höheren Sphären?

      So oder so, Henry McMillan hatte guten Grund mit seinem Konzept und mit sich zufrieden zu sein. Trotz einiger böser Briefe vonseiten vereinzelter Zuhörer, die ihm Voyeurismus vorwarfen oder ihm unterstellten ein zynischer Heuchler zu sein, der das Leid und die Not seiner Anrufer ausnutze, um in Form eines Seelenstriptease höhere Quoten zu erzielen, überwog deutlich das Gros seiner Fangemeinde. Auf Twitter und Facebook folgte ihm auch das normalerweise schwer zu erreichende, jüngere Zielpublikum. Die Generation U21 galt unter Marktanalytikern als ebenso sprunghaft und unstet wie das Wetter vor der Atlantikküste, das McMillan stets durchs Fenster in seinem Sendestudio bestaunen konnte. Auch heute zog sich wieder ein Gewitter zusammen, das nördlich aus Schottland angebraust kam. Immerhin bedeutete dieses Wetter in der Regel höhere Quoten. McMillans Zuhörerschaft hatte sich gerade durch den späten Sendeplatz verfestigt, da viele Erwerbstätige eine Ablenkung während der einsamen Nachtschicht benötigten und viele ledige Seelen dort draußen hungerten danach, jemanden zum Sprechen zu finden. Wo kommen bloß all diese Verrückten her?, hatte McMillan sich schon bei dem einen oder anderen Kandidaten gefragt. Besondere Affinität hegte er für keinen seiner Anrufer – selbst wenn einer zufälligerweise Fan desselben Rugby-Teams war, hielt sich seine persönliche Anteilnahme in Grenzen. Für McMillan handelte es sich bei den Anrufern um seine Kunden. Und Kunden zählte er nicht zu seinen Freunden, sondern verbuchte sie lediglich als anonyme Nummern. Zahlen. Und McMillan wollte viele Zahlen sehen, besonders auf seinem Konto. Zahlen bedeuteten Macht, das hatte er schon früh gelernt. Seine Anrufer waren wie Auftraggeber und er der Söldner. Der Auftrag lautete, sich ihr Gequatsche anzuhören und hohe Einschaltquoten zu generieren. Jeden Abend wurde dabei ein Thema festgelegt, zu dem Zuhörer anrufen und fünf bis zehn Minuten mit ihm sprechen durften.

      Als McMillan vor drei Jahren seinen Job angetreten hatte, war er zunächst froh überhaupt einen Beruf gefunden zu haben, nachdem er sein Studium am Trinity College ohne Abschluss geschmissen hatte, um daraufhin wie viele gescheiterte Existenzen seiner Zunft bei den Medien anzuheuern. Zunächst als ordinärer Late-Night-Talk konzipiert, konnte die Sendung im Laufe der Zeit wachsende Beliebtheit verbuchen, die vor allem auf McMillans zackige Moderationen und der exotischen Themenauswahl zurückzuführen war. Statt Diskussionen um die ersten pubertären Pickel zu führen oder bei Problemen mit den Nachbarn auszuhelfen, verschob sich das Gewicht mehr auf Gebiete wie sexuelle Perversionen oder dunkle Geheimnisse. Je abgedrehter, umso besser, denn dies lockte die Freaks an die Telefonleitungen und die Zuhörer an die Empfangsgeräte, während die Klicks in den sozialen Netzwerken weiter nach oben anzogen und vom Mob geliked, geteilt und kommentiert wurden.

      Habt ihr einen Lehrer damals in der Schule sexuell befriedigt, um euren Notenspiegel aufzubessern? An wen denkt ihr wirklich, wenn ihr mit euren Partnern schlaft? Hattet ihr schon mal Geschlechtsverkehr mit Tieren? Steht ihr auf Natursekt?

      Aber auch okkulte Themen wie paranormale Erscheinungen oder Verschwörungstheorien wurden bei McMillan abgeklappert. Gläserrücken und schwarze Hexenmagie. Wann soll die Welt das nächste Mal untergehen? Steckt die CIA hinter den Anschlägen auf das World Trade Center? Wer zieht hinter den Kulissen die Fäden? Und wer muss am Ende die Bühne für immer verlassen? Gibt es einen Gott? Und wenn ja, muss es dann nicht auch einen Teufel geben?

      Der Gegenstand des heutigen Abends lautete schlicht: Das Böse. McMillan hatte es zuvor wie folgt angekündigt:

      Ich möchte mit Leuten sprechen, denen das Böse schon einmal begegnet ist. Wir alle wissen, das Böse kann einem begegnen in Form eines Menschen; eines Menschen, der einem viel Leid angetan hat. Sei es körperliche Gewalt oder psychologische Stigmatisierung. Hat euer Daddy euch verprügelt oder in den Keller gesperrt? Das Böse kann einem aber auch begegnen in einer übernatürlichen Form. Reden wir hier von Dämonen oder Satan selbst? Glaubt ihr an böse Geister? Ist euch der Leibhaftige schon mal begegnet? Darüber möchte ich gerne mit euch sprechen, also ruft an.

      Und die Leute riefen an. Gerade hatte er eine betagte Frau in der Leitung, die ihm von ihrer unheimlichen Begegnung mit dem Bösen erzählte.

      „Okay, also wie darf ich das deuten? Sie sind also wirklich einem … Gespenst begegnet?“, fragte McMillan die Dame, deren Unsicherheit man zunehmend heraushörte.

      „Ich kann nur schildern, was ich gesehen habe. Die weiße Gestalt einer alten Frau – älter als ich – die nachts vor meinem Bett stand. Sie sprach kein Wort, kein einziges. Aber sie starrte mich an …“

      „Ein kleiner Break, Charlotte“, unterbrach der Moderator sie. „Wir haben jetzt nach Mitternacht. Rufst du gerade aus deinem Schlafzimmer an?“

      „Nein, nein, das Telefon ist im Wohnzimmer“, beteuerte sie.

      „Guck doch mal ins Schlafzimmer, ob du die Gestalt mit den roten Augen wieder siehst“, sagte McMillan.

      „Nun, das ist es ja. Ich traue mich nicht mehr ins Schlafzimmer. Die Gestalt erschien mir nur dort, … selbst meine Katze macht einen Bogen darum. Ich schlafe seitdem auf meiner kleinen Couch.“

      „Wieso ziehst du dann nicht einfach aus? Mich würden da keine zehn Pferde mehr halten!“

      „Will ich ja, aber ich kann mir keinen Umzug leisten bei meiner knappen Rente. Ich beziehe ja schon zusätzlich Stütze. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Ich stehe Todesängste aus!“

      „Hast du schon mal einen Exorzisten gerufen?“, fragte McMillan abschätzig.

      „Wie bitte?“

      „Das denk’ ich mir auch. Tja, Charlotte, ich an deiner Stelle würde schnell die Pillen absetzen, die du gerade eingeworfen hast. Vielleicht verschwinden die Gestalten dann ja von ganz alleine. Danke, dass du angerufen hast und süße Träume. Grüß deine unerwünschte Untermieterin von mir. Bye-bye.“

      Die Frau versuchte noch etwas zu erwidern, aber ein Klick von McMillan auf den Button seines Armaturenbretts und die Dame verschwand, als hätte es sie nie gegeben. McMillan holte kurz Luft und sprach in sein Mikrofon, welches an einem silbernen Stativ von der Decke herabhing. Wenn die Feder mächtiger war als das Schwert, wie stand es dann mit dem Mikrofon?

      „Ja, das war die gute Charlotte, die einen Geist in ihrem Schlafzimmer vermutet. Was haben die Untoten in unseren Gemächern zu suchen? Ist es ihnen nicht mehr kuschelig genug in der Hölle? Falls ihr auch eine unheimliche Begegnung mit dem Bösen überlebt habt – sei es der Spuk in eurem Kleiderschrank oder einfach nur der Hund, der mal wieder prophylaktisch eure Hausaufgaben gefressen hat – dann ruft an, die Leitungen sind frei und ich habe ein Ohr für euch. Wir machen sofort weiter nach einer kurzen Pause. Bis gleich.“

      Noch während er sprach, wanderte seine Hand mit der Maus über den Desktop seines Rechners, wo er nahtlos auf die Trackliste überleitete und daraufhin den Moderationsregler langsam herunter drehte. Zwei Songs wurden gespielt: The Blues Are Brewin’ von Billie Holiday und Thunder Road von Robert Mitchum. Um so eine späte Uhrzeit spulte man immer Oldies ab, weil die Tantiemen dafür günstig zu beziehen waren und man es sich nicht leisten wollte, teure Hits aus den Charts zur Geisterstunde einzukaufen. Wer so lange aufblieb, um McMillan zu hören, tat dies schließlich nicht wegen der Musik. Neben den Songs quetschten sich ein paar Werbespots über den üblichen