Es verbarg sich nicht in einer Drachenhöhle oder einem gotischen Schloss, wie es uns immer in Märchen vorgegaukelt wurde, sondern in diesem Haus neben der alten Mühle. Dort, wo ich zuvor bereits so oft unbehelligt vorbeispaziert war. Meine Mutter und ich hatten gerade zu Abend gegessen.
Ich erinnere mich, wie ich mich üblicherweise fertig fürs Bett machen wollte, als sie mich fragte, ob wir noch eine Runde spazieren gehen wollten. Das kam überraschend, aber ich freute mich, da ich nur wenig Zeit mit ihr verbrachte. Allerdings wurde ich bereits zu Beginn stutzig, denn statt spazieren zu gehen, fuhr vor unserem Haus ein Auto vor. An dessen Steuer saß der Vater eines Klassenkameraden.
Wir stiegen ein und fuhren nur ein kleines Stück bis zu dem Haus, parkten aber weiter weg statt direkt davor. Meine Mutter führte mich herein und sagte mir, ich sollte Platz nehmen. Das Haus war spartanisch eingerichtet und als ich von ihr ins Nebenzimmer geleitet wurde, sah ich ein Bett und zwei kleine Schemel. Da trug meine Mutter mir plötzlich auf, mich auszuziehen.
Ich fragte nur: Ganz?
Und sie erwiderte völlig trocken: Ganz!
Ich gehorchte, aber verstand nicht. Ich glaubte zunächst, dass ich es mit einer ärztlichen Untersuchung zu tun hätte. Ich erinnere mich nur noch, mir später eingeredet zu haben, dass der folgende Akt irgendeinen Sinn gehabt haben musste. Der Vater des Klassenkameraden war der Erste, den ich anfassen musste – bis er sich schließlich auszog.
Es tut mir leid, aber ich muss das tun wurde mir so oder in anderer Abwandlung immer wieder gesagt, bevor es losging. Dies wiederholte sich zuerst ein paar Wochen mit verschiedenen Personen, die mich aufsuchten und ebenfalls beteuerten, dass sie dies eigentlich nicht machen wollten, aber ihnen keine Wahl bliebe. Doch aus den Wochen wurden Monate. Und als die Monate schließlich zu Jahren wurden, wusste ich schließlich nicht mehr, wer Selina O' Reilly war. Ich wusste nur noch, dass ich das Hanky Panky-Mädchen war. Ich war das Böse; nicht die Ungeheuer, die ein Kind suchten, um sich ein Stück menschlich zu fühlen …“
„Pardon! Um sich menschlich zu fühlen?“, platzte es aus McMillan heraus. „Verharmlost du da nicht etwas zu sehr?“
„Sie brauchten jemanden, an dem sie ihre finsteren Gelüste und Gedanken praktisch abreagieren konnten. Ihre eigenen Blagen in der Schule waren nur ein verniedlichtes Abbild davon, was die Menschen – selbst die edelmütigsten unter ihnen – brauchen, um sich gut zu fühlen. Jemanden auf den sie alle Last, alle Sorgen und Sünden dieser Welt abladen können, damit sie mit dem Finger auf diese Person deuten und sich sagen können: Das ist das Böse! Wir sind es nicht! Nur so können diese Menschen auch Menschen bleiben. Sie können beruhigt morgens zur Arbeit und am Sonntag in die Kirche gehen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Man kapselt die dunkle Seite von sich ab, indem man seine eigenen Fehler auf eine andere Person projiziert … und diese deswegen zu hassen lernt. Diese Menschen dort waren sehr fromm, aber besaßen ein Verlangen, dass ihnen ihre erstickende Ordnung und ihre eigens erlassenen Normen nicht erfüllen konnten. Also suchten sie ein Opfer. Ich war das Böse, denn schließlich würde niemand einem Kind so etwas antun und schon gar nicht diese gläubigen Menschen. Nein, ich war daran schuld. Ich reizte sie im Alltag doch geradezu, und als ich in diesem Haus so nackt vor ihnen stand … den Nachbarn, dem Schuldirektor, der Frau des Pfarrers … da brachen bei ihnen alle Dämme. Sie konnten doch gar nicht anders! Wer würde einem Kind so etwas antun, wenn es sie nicht dazu herausforderte? Ich war das Böse, und solange sie es alle gemeinsam taten, konnten sie zusammenhalten und dafür sorgen, dass ich nicht ausbrach und noch mehr Unheil anrichtete.“
„Haben sie dir das eingeredet? Haben sie dich Glauben gemacht, dass sie das nur tun, weil du sie dazu zwingst?“, fragte McMillan tonlos. Alle Wärme schien aus seinem Körper geglitten zu sein. Doch Selina sprach weiterhin auf eine stoische Art und Weise, als würde sie über einen Besuch auf dem Jahrmarkt berichten.
„Nicht diese Menschen waren das Böse … ich war es. Ich bin es, ich sollte nie etwas anderes sein.“
„Selina … wenn ich das jetzt alles so richtig verdaut habe, dann … ich meine … ja, ist es denn nie zu einer Anzeige gekommen?“
„Anzeige? Ein Mädchen gegen ein ganzes Dorf? Und welchen Zweck hätte ich damit erfüllt? Was hätte ich gewonnen? Ich bin das Hanky Panky-Mädchen.“
„Selina, wir haben schon viele psychisch … naja, Menschen mit Problemen erfolgreich an Seelsorger weitervermittelt. Wenn du gleich noch ein bisschen dranbleibst, können wir vielleicht Dr. Borgine kontaktieren, der dich dann ...“
„Nein, nein, ich fühle mich nicht krank. Du wolltest über das Thema Das Böse reden und ich habe mich gemeldet, um dir meine Erfahrungen mit dem Bösen mitzuteilen.“
„Hast du irgendetwas getan, Selina? Ich meine, so etwas kann doch kein Mensch einfach so hinnehmen …?“
„Ich habe nicht gesagt, dass ich keine Konsequenzen aus meinen Erfahrungen gezogen habe. Natürlich hat es mich auf ewig geprägt. Wie ich schon zur Einleitung sagte, ich bin ein Wolf. Das war als du dich noch darüber lustig gemacht hast … ist dir nun immer noch zum Lachen zumute?“
„Ich habe mir einige deiner Aussagen notiert. Du sprachst davon, dass du im Laufe der Zeit einige Opfer gefunden hättest?“
„Mach ich Ihnen etwa Angst, Herr Moderator?“, fragte sie in einem höhnischen Unterton.
„Selina, was hast du getan?“
„Ich glaube, jetzt wissen Sie langsam, was es mit dem Bösen auf sich hat …“
„Selina, hast du jemanden umgebracht? Sprich mit mir!“, rief McMillan und krallte sich mit den Händen an seinen Tisch.
„Ich glaube, du kennst die Antwort darauf. Du wusstest es doch bereits vorher, nicht?“
„Was?“
„Das dachte ich mir. Bis zum nächsten Mal. Es grüßt, das Hanky Panky-Girl!“, hauchte sie ihm entgegen.
„Hanky Panky … Selina, warte!“, rief er, doch da hatte sie bereits aufgelegt.
Sie war weg. Für immer verloren? Durch die Isolierglasscheibe gab Thomas Lee ein Zeichen, dass McMillan weitermachen oder zumindest zu einer Pause überleiten solle, was der Moderator auch keuchend tat. Jetzt musste der Profi in ihm zeigen, was er konnte und er bemühte sich nach allen Kräften entspannt und locker zu wirken.
„Tja, das war grade wohl eine sehr gruselige Geschichte von Selina O’ Reilly. Danke für diesen herrlichen Einblick! Ich brauch jetzt erst mal ein bisschen Musik und ihr sicher auch. Wir hören uns nach einer kurzen Unterbrechung wieder. Unser Thema heute Abend lautet: Das Böse. Also ruft an!“ Klick, und die automatischen Audiodateien wurden abgespielt. In Windeseile riss sich Henry McMillan die Kopfhörer von seinem Haupt und atmete tief durch, da stürmte auch schon Lee ins Studio.
„Wir können den Anruf zurückverfolgen!“, keuchte er.
„Nein“, stöhnte McMillan.
„Nein? Was meinst du mit Nein? Die Braut braucht dringend Hilfe, bevor sie noch sich oder jemand anderen etwas antut!“, behauptete der Aufnahmeleiter.
„Du glaubst diese Räuberpistole doch nicht etwa, oder?“, warf McMillan zurück. Lee haderte und runzelte die Stirn. „Die Story ist doch echt zu hart, um wahr zu sein. Hat die Irre sich ausgedacht. Das war der düsterste Cocktail, den ich je gehört habe. Mobbing, schlimmes Elternhaus, schreckliche Kindheit und pädophile Massenvergewaltigung. Dazu noch irgendein Gefasel von inneren Dämonen und Anspielungen, dass sie eine Mörderin aus Leidenschaft sei? Ich bitte dich! Das einzige, was noch gefehlt hätte, wäre eine Totgeburt, um ihr Leid perfekt zu machen.“
„Du glaubst, dass das echt nur Scharade war?“
„Du hast doch selbst gehört, wie abgeklärt die Frau geklungen hat. Jemand, der so etwas tatsächlich durchgemacht hat, hätte sich doch längst irgendwann umgebracht, anstatt hier