Zwielicht 11. Michael Schmidt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Schmidt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783746734484
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hatte er sich dazu entschlossen, das Anwesen unverändert zu lassen und er ließ so gut wie keine Arbeiten daran verrichten. Er wollte den alten, düsteren Geist des Gemäuers und seine Geheimnisse bewahren. Es übte eine seltsame Anziehungskraft auf ihn aus und auch ich konnte es spüren. Je länger ich mich dort aufhielt, desto mehr ergriff es Besitz von mir. Oft streifte ich alleine durch die verwinkelten Flure und Zimmer, die düsteren Keller und den verwilderten, zugewucherten Garten. Der verfluchte Keller.“

      Heinrich Kind nahm einen Schluck Wein.

      „Dort unten hielten wir zu zweit stundenlange Sitzungen ab, bis wir in Crowleys Schriften auf ein altes Blutritual stießen, mit dem es, laut Crowley, gelingen sollte, den Herrn der Finsternis anzurufen. Das taten wir dann. Das Ritual war schmerzhaft und erschöpfend, aber Jimmy bestand darauf. Aus seinem Blut erschufen wir letztlich eine mächtige schwarzmagische Essenz, die Jimmy in einer Phiole aufbewahrte.“

      Simon starrte den Alten an.

      „Sie verarschen mich?“

      „Glauben Sie?“

      „Was geschah mit der Essenz?“

      „Ich hatte zunächst keine Ahnung, aber einige Tage später offenbarte mir Jimmy, dass er sie beim Produktionsprozess einer kleinen Anzahl von Schallplatten verwenden wollte, um auf diese den Geist des Meisters zu bannen. In einem kleinen Presswerk bei Glasgow ließ Jimmy dann die Platten herstellen. Es waren am Ende vier Stück. Eine davon halten Sie jetzt in den Händen.“

      „Das ist einfach nicht wahr“, sagte Simon mit ruhiger Stimme und betonte dabei jede einzelne Silbe.

      Der Alte überging die Bemerkung. „Es hat ihn ein Vermögen gekostet, aber das war ihm egal.“

      „Sie erfinden das. Die Geschichte ist so dämlich, dass sie schon fast wieder gut ist. Alleine dafür müssten Sie eigentlich mehr als nur hundert Euro verlangen.“

      Doch diese als Scherz beabsichtigte Äußerung kam Simon nur halbherzig über die Lippen. Ob es am schummrigen Licht oder dem Rotwein lag, konnte er nicht mit Sicherheit sagen, aber innerlich wankte er. Konnte das wahr sein? Weiß der Teufel, was die in den Siebzigern alles in diesem abgelegenen Keller getrieben hatten. Vielleicht erlebte der Alte gerade einen schweren Flashback, der auf jahrelangem LSD-Konsum beruhte. Es musste Logiklöcher in der Story geben.

      „Was ist mit den anderen drei Platten passiert?“, hakte Simon nach.

      „Jimmy hat sie an verschiedenen Stellen des Anwesens einmauern lassen.“

      „Er hat was?“

      „Jimmy hat den Geist des Meisters in Boleskine House verankert und es in ein Zentrum der dunklen Mächte verwandelt. Er hat den Ort mit dunkler Energie aufgeladen. Wie eine Batterie, verstehen Sie? Ein Ort, an dem man Satan selbst herbeirufen konnte, eine Standleitung in die Hölle.“

      Heinrich Kind beugte sich weit in seinem Sessel vor, bohrte die klauenartigen Finger in die Armlehnen, sein Gesicht nur Zentimeter von Simons entfernt. „Verstehen Sie?“

      „Was geschah dann?“, fragte Simon nach einigen Sekunden, die sich wie Kaugummi zogen.

      Der Alte sackte in seinen Sessel zurück und spähte durch den schmalen Vorhangspalt nach draußen. Im warmen Nachmittagslicht tanzten die Staubpartikel. Das Ticken der Standuhr hallte lauter als je zuvor. Unerbittlich schwang das Pendel hin und her und Simon musste unwillkürlich an Die Maske des Roten Todes von Edgar Allan Poe denken. Heinrich Kind war eine gealterte Version von Prinz Prospero, der durch die bizarren Flure und Hallen seiner verzerrten Erinnerung wanderte. Der Tod würde ihn hier hinter seinen eigenen Mauern doch noch ereilen. Aber erst, wenn er vollständig den Verstand verloren hätte. Er schien auf dem besten Wege zu sein.

      „Herr Kind? Was geschah dann? Sie sagten, Sie hätten alles verloren.“

      „Sie sind alle gestorben. Einer nach dem anderen“, antwortete der Mann ohne seinen Blick vom Fenster abzuwenden.

      „Was meinen Sie?“

      Der Alte blickte ihn wieder an.

      „Ende Dezember 1970 kehrte ich Boleskine House den Rücken. Weder wollte ich den Jahreswechsel dort verbringen noch Jimmys Geburtstag im Januar abwarten. Auf meine Bitte hin entließ er mich aus seinen Diensten und gab mir eine der vier Platten. Diese hier“, sagte er und zeigte auf die Vinylscheibe, die Simon mit sicheren Griffen wieder in den Pappschuber eingelegt hatte.

      „Natürlich wollte ich wissen, ob der Crowley-Zauber funktioniert hat, den wir in dieses rabenschwarze Stück Vinyl gebannt hatten. Wenige Tage nach meiner Rückkehr habe ich die Platte dann eines Abends abgespielt und ich ließ ‚Stairway to Heaven’ an der besagten Stelle rückwärts ablaufen.“ Kind machte eine Pause. „Ich werde diesen Moment niemals vergessen. Nie werde ich die Stimme aus meinem Kopf kriegen, die aus den Lautsprechern erklang. Es war, als sei jemand aus den Lautsprecherboxen heraus und in mein Zimmer getreten, ganz nah an mich heran.“ Schweißperlen standen auf der Stirn des Alten und er zitterte. „Dann vernahm ich die Botschaft des Meisters, er flüsterte sie mir direkt in mein Ohr.“

      Simon lauschte gebannt, traute sich aber nicht, eine Frage zu stellen oder eine unterbrechende Bemerkung zu machen. Wahrscheinlich war der Stimmeneffekt im Studio einfach nur in die eigentliche Tonspur eingeschleift worden. Daher der intensive Klang. Nur Technik, kein Teufelswerk. Led Zeppelin waren nicht die Ersten und nicht die Letzten, die sich dieses Kniffs bedient hatten. Doch diesmal war Simon so klug, seine Weisheiten für sich zu behalten.

      „Plötzlich war es vorbei. Ich spielte den Song noch einmal an und ließ ihn ganz normal bis zum Ende durchlaufen. Nichts geschah. Am nächsten Morgen war Henry tot. Henry war mein Beagle. Während meines Aufenthalts in Schottland hatte ich ihn meiner Schwester überlassen, die sich um ihn kümmern sollte. Er lag einfach tot vor meinem Bett.“

      „Das kann doch Zufall gewesen sein.“

      „Ja, das dachte ich zunächst auch. Eine Woche später ist meine Mutter gestorben. Einen Monat darauf mein Vater. Beide an einem Hirnschlag. Halten Sie das auch für Zufall?“

      „Naja“, setzte Simon an. Doch bevor er weitersprechen konnte, fuhr Kind fort.

      „Ein halbes Jahr später ist meine Schwester gestorben. In einem Badesee ertrunken. Sie war eine gute Schwimmerin. Taucher mussten sie aus dem See holen, sie hatte sich in Schlingpflanzen verheddert.“

      „Ein tragischer Unfall?“

      „So sah es aus. Aber ich wusste es besser, ich sah die Spuren an ihrem Knöchel. Die Polizei sagte, es handele sich um die Druckstellen der Schlingpflanzen. Doch in meinen Augen waren es unverkennbar die Male von Fingern. Etwas hatte sie gepackt und in die Tiefe gezogen.“

      Simon sah nun keinen geifernden Verrückten mehr vor sich, sondern einen gebrochenen Mann, dem das Leben übel mitgespielt hatte. Und es gab nichts, was er zum Trost hätte sagen können.

      „Hören Sie, Herr Kind, das tut mir alles furchtbar leid. Ich bin eigentlich nur gekommen, um vielleicht diese alte Schallplatte zu kaufen. Vielleicht interpretieren sie zu viel in die Sache hinein. Ich will nicht taktlos erscheinen, sie haben viel durchgemacht und einige herbe Schicksalsschläge hinnehmen müssen. Vielleicht ist es wirklich besser, wenn Sie sich von dieser Schallplatte trennen und die Sache abschließen. Ich bin auch gerne bereit, etwas mehr zu zahlen.“

      Der Alte hob den Blick und schaute Simon fest in die Augen. „Sie haben nicht verstanden, mein junger Freund. Das alles hängt doch gerade mit dieser verfluchten Schallplatte zusammen.“

      „Warum haben Sie sich nicht früher von ihr getrennt oder sie einfach zerstört?“

      „Glauben Sie, das hätte ich nicht versucht? Es hat nicht funktioniert. Damals nicht und heute nicht. Ich konnte nicht, verstehen Sie? Ich konnte nicht. Die Platte ließ es nicht zu.“

      „Was meinen Sie damit, die Platte ließ es nicht zu?“

      „Ich habe sie an die Wand geworfen,