„Natürlich ist das alles!“, zischte Flieder. „Und jetzt mach, dass du in die Hufe kommst! Oder hast du etwa Angst vor einer alleinstehenden Dame, die auf ihren neuen Liebesroman wartet? Vermutlich, um von ihrem Märchenprinzen zu träumen, fügte er für sich hinzu.“ Entschlossen schob er seinen verdatterten Enkel Richtung Tür. Auf der Straße musste Fabius zunächst einmal seine wirren Gedanken ordnen. Der Alte hatte es wieder einmal kaltschnäuzig geschafft ihn abzuwimmeln. Aber immerhin besaß er jetzt wenigstens ein paar Informationen über die Kundin, die er als Nächstes beliefern sollte. Eine alte Jungfer, die Liebesromane verschlang, um ihre Einsamkeit zu vergessen … Das klang in der Tat wenig bedrohlich.
Seltsam … dachte Fabius dann bei sich, Sündige Leidenschaft war erst vor wenigen Wochen verfilmt worden und stand wochenlang in den Kinocharts. Seine Freundin Lena hatte ihn dazu genötigt, den Schmöker zu lesen und später mit ihm in den Film zu gehen, damit er lernte, was Romantik bedeutet. Trotzdem konnte er sich nicht daran erinnern, worum es in dem Film oder in dem Buch ging. Und In der Schwüle einer Liebesnacht? Von dem Buch hatte er noch nie gehört oder vielleicht doch?
Er radelte am Oberforster-Bach entlang Richtung Südstadt. Kurz vor Sonnenuntergang trieb ein kühler, frischer Wind ihn an, stärker in die Pedale zu treten. Er fuhr quer durch den Schlosspark, hinter dem parallel die gleichnamige Straße verlief. Das letzte Haus gehörte Frau Molte. Ihr Vorgarten grenzte seitlich direkt an den gusseisernen Zaun des Parks.
Plötzlich trat aus dem Schatten eines dichten Gebüschs eine dunkle Gestalt, die mitten auf den Weg torkelte. Fabius konnte gerade noch rechtzeitig bremsen, sein Hinterrad schleuderte zur Seite. Fast wäre er gestürzt. Der Mann vor ihm starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Offensichtlich handelte es sich um einen Obdachlosen, der sich nach einem Schlafplatz für die Nacht umsah.
„Passen Sie doch auf, um Himmels willen. Ich hätte Sie fast über den Haufen gefahren!“, rief Fabius ihm verärgert aber gleichzeitig auch erleichtert zu.
„Machts kurz, ich sehn´ mich nach dem Tode!“, antwortete der Mann mit einem leiernden Tonfall. Der Kerl schien angetrunken zu sein. Aufgrund seiner Verwahrlosung konnte er das Alter schwer schätzen. Er hatte wirres, angegrautes Haar und einen ebensolchen Vollbart. Das gebräunte, wettergegerbte Gesicht erinnerte an einen verknitterten Faltenrock. Unter den trüben, grauen Augen hingen tiefe Tränensäcke. Sein dunkelblauer Trainingsanzug war von oben bis unten mit Schmutzflecken bedeckt, deren genaue Herkunft der Betrachter nicht wirklich erfahren wollte. Unterm rechten Arm klemmte ein Schlafsack, in der linken Hand trug er eine Plastiktüte vom Discounter, in der zwei Flaschen mit rotem Weinfusel steckten.
„Mensch, ich krieg kaum Luft, so hab ich mich erschrocken“, japste Fabius und machte eine Geste, als wolle er sich Schweiß von der Stirn wischen.
„Wie kannst du außer Atem sein, wenn du noch Atem hast, um mir zu sagen, dass du außer Atem bist?“ Der Obdachlose machte eine weit ausladende Geste mit dem linken Arm, die ziemlich theatralisch wirkte. Ganz offensichtlich hatte der Kerl einen Dachschaden. Trotzdem stieg Fabius vom Rad und trat näher an den Mann heran.
„Ist Ihnen nicht gut?“, fragte er besorgt. „Fehlt Ihnen was?“
„Wie geht es meiner Julia? Denn nichts kann schlechter sein, wenn's ihr nur gut geht!“ Fabius Gegenüber entblößte beim Sprechen zwei Reihen lückenhafter, bräunlich-schwarzer Zahnreihen. Der verzückte, schwärmerische Gesichtsausdruck stellte einen kaum erträglichen Kontrast zu dem kloakenhaften Gestank dar, der aus dem Mund des Penners strömte.
Fabius kam immer mehr zu der Überzeugung, dass er es mit einem Irren zu tun hatte, der dringlich in eine entsprechende Anstalt eingewiesen werden musste.
„Wie heißen Sie, guter Mann? Haben Sie Angehörige, die ich benachrichtigen könnte?“ Er tastete nach seinem Smartphone, um Hilfe herbeizurufen.
„Was ist schon ein Name? Was uns Rose heißt - wie es auch hieße - würde lieblich duften“, kam die lallende Antwort. Nun reichte es dem Bücherboten endgültig. Er tippte gerade die Notrufnummer ein, da fing der Kauz plötzlich an zu husten und zu würgen. Im Schwall pladderte eine Lache Erbrochenes vor Fabius Füße. Der sprang entsetzt mit einem Aufschrei zur Seite. „Das ist ja widerlich, Mann!“ Der Obdachlose dagegen stand mit einem Mal stocksteif da, wurde ganz bleich um die Nase und starrte Fabius mit weit aufgerissenen Augen an. Nach einer Weile entspannte sich die Körperhaltung des Mannes, so, als fiele eine Last von seinen Schultern. Er atmete einmal tief ein und aus und wandte das Gesicht dem jungen Flieder zu.
„Endlich …, jetzt ist es vorbei. Hast du mal ne Kippe für mich, Junge?“
Kopfschüttelnd steckte Fabius sein Smartphone ein, nachdem er sich vergewissert hatte, dass von der Sauerei nichts auf seine Hose oder die Schuhe geraten war.
„Was – um Zeus Willen – ist mit Ihnen eigentlich los?“, fuhr er sein Gegenüber an, der sich den Mund mit dem Ärmel abwischte.
„Das sind noch die Nachwirkungen des Dopes von der alten Hexe da drüben.“ Er zeigte zum Haus von Frau Molte hinter dem Gitterzaun des Parks. „Ich hab gestern Nacht in ihrem Gartenhaus gepennt und von ihrem selbst gebrannten Kräuterschnaps getrunken.“ Der Penner kicherte amüsiert, als er daran zurückdachte. „Mannomann …, das ging aber ab wie Schmitz Katze! So einen Horrortrip hab ich noch nie erlebt!“
„Dope? Kräuterschnaps?“, fragte Fabius verwirrt. „Moment mal, wir reden hier doch von Frau Molte, einer einsamen Dame, die Liebesromane liest.“
„Ist mir egal, was die Alte liest“, grölte der Obdachlose. „Aber ihr Stoff ist einmalig. Zwischendurch packt mich der Flash und ich fühle mich wie ein brünstiger Liebhaber auf der Pirsch nach seiner Liebsten!“ Mit dreckigem Lachen klopfte er sich auf die ebensolchen Schenkel. Nachdenklich nahm Fabius sein Rad auf, winkte dem seltsamen Kerl noch einmal kurz zu und machte sich auf den restlichen Weg bis zu Frau Moltes Haus.
Inzwischen war es dunkel geworden. Im Licht der Straßenlaterne lehnte er sein Fahrrad an den Jägerzaun vor dem etwas heruntergekommenen Fachwerkhaus. Er nahm die Plastiktüte mit seiner Buchlieferung aus dem Gepäckträger und ging zur Haustür. Er klingelte mehrmals, doch niemand öffnete ihm, obwohl ein uralter Ford-Taunus unter dem Carport stand.
Fabius ging ums Haus herum und gelangte auf ein langgezogenes Gartengrundstück. Tatsächlich sah er etwa sechzig Meter weiter ein Gartenhaus, das mehr einem kleinen, vergammelten Schuppen aus vermoderten Holzbrettern entsprach und in dem Licht brannte. Da er keine Lust verspürte, am nächsten Tag noch einmal hierher zu fahren, lief er kurzentschlossen weiter und betrat nach flüchtigem Anklopfen das Gartenhaus. Er sah sofort, dass niemand da war. Fabius wollte schon enttäuscht hinausgehen, als sein Blick auf sorgfältig aufgereihte Einmachgläser in einer offenen Regalwand fiel, die er sich neugierig anschaute. Auf den Etiketten las er zunächst erwartungsgemäß Aufschriften wie: Pflaumenmus, Kirsch- oder Holundermarmelade. Doch auf dem obersten Brett standen mit Männernamen etikettierte Fläschchen. Bruce Weller stand dort, oder Henry Russel, oder Peter Unger … Peter Unger! Ja … Das war er! Die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitz. Wie hatte er das nur vergessen können? So hieß der Protagonist und Liebhaber aus Sündige Leidenschaft, dem verfilmten Bestseller. Noch vor vier Wochen stand der Roman in der Spiegel-Bestsellerliste und führte die Kino-Charts an, doch von einem Tag zum anderen schien er in Vergessenheit geraten zu sein. Ganz merkwürdig … Und Henry Russel? Hmm … dämmerte ihm da was? Sein Großvater hatte doch eben im Laden einen Titel erwähnt … In der Schwüle einer Liebesnacht … Genau! Noch vor drei Monaten der skandalträchtigste Erotik-Thriller der letzten Jahre. Henry Russel hieß der standfeste Dauerbeglücker der Damenwelt, nach dem sich pubertierende Teenies und unbefriedigte Vorstadt-Mutties gleichermaßen in ihren Träumen verzehrten, bis – von Jetzt auf Gleich – das Vergessen einsetzte und niemand mehr von dem Buch redete. Irgendetwas stimmte da nicht. Fabius nahm eines der Glasfläschchen in die Hand und hielt es gegen das Licht der nackten Glühbirne. Die Flüssigkeit darin war vollkommen klar wie Wasser. Als Fabius einen Schritt zurücktrat, stieß sein Fuß an einen Gegenstand,