Zwielicht 11. Michael Schmidt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Schmidt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783746734484
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Zugabe die Ansage für das Freeze-Festival am Wochenende, wo der Sender zwei Tickets in der ersten Reihe verloste.

      McMillan zog unbekümmert die Kopfhörer ab und begab sich zur Regie, die hinter einer isolierten Glasscheibe im Nebenzimmer lauerte. Um diese Uhrzeit standen ihm nur Thomas Lee und stets ein armer Praktikant zur Seite, den man zur Nachtschicht verdonnert hatte, ohne ihm einen Penny dafür zu zahlen. Keine Ahnung, wie der Knabe hieß. McMillan gab sich nie Mühe, die Namen der Hospitanten zu merken, da sie genauso schnell verschwanden, wie sie gekommen waren. Immerhin gaben die meisten einen Ausstand mit Kuchen und ließen so wenigstens etwas Brauchbares zurück. Thomas Lee dagegen war ein gängiger Kollege und für die Aufnahmeleitung sowie den technischen Support zuständig. Er sorgte für den reibungslosen Ablauf der Sendung und arbeitete nebenher auch als Rechercheur und Realisator. Lee filterte die Anrufer mithilfe des Praktikanten aus, um nur die interessanten Fälle zum Moderator vorzulassen. Dies geschah stets durch Vorgespräche, in denen die Anrufer ihr Anliegen erläutern konnten, wobei Lee auch die akustische Qualität der Verbindung ins Auswahlkriterium einfließen ließ. Daher hatte er zwischen den Pausen nur wenig Zeit, sich mit McMillan zu unterhalten. Auch jetzt führte er gerade eines jener Vertiefungsgespräche mit einem potenziellen Kandidaten. Wie abgesprochen hatte der Praktikant den Tee für McMillan bereits gekocht. Ohne eine Geste des Dankes griff der Moderator nach der heißen Tasse. In dem Augenblick setzte Lee den Anrufer kurz in die Schleife und wandte sich an McMillan.

      „Henry, das war gut grad eben, aber du hättest die alte Lady ruhig noch ein bisschen zappeln lassen können“, dozierte er.

      „Ach, wie oft hatten wir das schon? Geister und Geistererscheinungen. Diese Typen sind doch reif fürs Irrenhaus“, monierte der Moderator. „Zugegeben, zuerst war es ja noch lustig, aber als sie dann mit dem Kram anfing, dass sie nicht weiß, wohin mit sich und dass sie niemanden hätte … mickrige Rente und Sozialdramen, interessiert doch keinen Pferdeschwanz. Was hätte ich ihr sagen sollen? Dass am Ende alles wieder gut wird, wenn sie diesen und jenen Kräutertrank braut?“

      „Vielleicht hab’ ich hier etwas, das dir besser gefällt, Ringo“, erklärte Lee und deutete auf sein Mischpult. „Da ist ‘ne Tussi, die nicht behauptet mit dem Bösen konfrontiert worden zu sein, sondern selbst das Böse zu personifizieren.“ Anders als von seinem Aufnahmeleiter erwartet, hing McMillans süffisantes Lächeln nur noch an einem Faden, der vor dem Zerreißen stand. Seine Augäpfel verdrehten sich.

      „Good Lord, so ‘ne Satansbraut? Wahrscheinlich Gothic-Look, Emo-Gewäsch und das Pentagramm noch dazu, was?“ spottete er.

      „Das glaube ich nicht, zumindest klingt sie nicht, als sei sie eine von diesen verirrten Mädels aus der Szene. Ich hak’ nochmal etwas nach, aber Interesse besteht?“

      „Pack die Alte rein …“, entgegnete McMillan, trank seinen letzten Schluck und knallte die Tasse auf den Tisch. Er warf sich noch schnell ein paar Erdnüsse ein und schritt ins Studio zurück. Durch das Fensterglas konnten Thomas Lee und der Praktikant sehen, wie er Platz nahm und sich zum nächsten Gespräch auflockerte. Das Gewitter lag noch in weiter Ferne, doch das markige Donnern kam langsam und bedächtig näher, gleich einer anschwellenden Drohung als Vorzeichen einer archaischen Schlacht, der man nicht entrinnen konnte. Gleich liefen die Einspieler ab und McMillan würde die Anmoderation übernehmen. Leise betrat der Praktikant das Studio und brachte ihm einen der vielen Notizzettel mit Informationen über den nächsten Anrufer: Selina O’Reilly, 29 Jahre.

      Frischfleisch, dachte sich McMillan, aber ob der Name stimmt? Wahrscheinlich nicht. Wie bei den meisten Anrufern musste es sich um ein Pseudonym handeln, um sich den Hohn von Freunden und Familien zu ersparen. War es doch überaus peinlich, wenn man im Late-Night-Talk ertappt wurde und dort offen eingestand, eine erotische Beziehung zu seinem Küchenstuhl zu führen. Der Praktikant verschwand und die letzten Takte von Thunder Road entfalteten sich über die Hörerfrequenzen. Henry McMillan übernahm das Ruder.

      „Hallo, liebe Leute. Da sind wir wieder mit Shut Up and Talk! und unserem heutigen Thema: Das Böse. Seid ihr dem Bösen bereits von Angesicht zu Angesicht gegenübergetreten? Wenn ja, wie hat es sich manifestiert? War es die resolute Schwiegermutter oder womöglich ein Monster unter eurem Bett? Ruft uns an und teilt eure Story mit. Das Blut kann ruhig spritzen! Ich unterhalte mich jetzt erst mal mit Selina O’Reilly, 29 Jahre alt. Hallo, Selina.“ Nur der Bruchteil einer Sekunde verstrich, dann hörte er ihre Stimme zum ersten Mal.

      „Hallo, Henry“, antwortete sie locker und ungezwungen. Ihre Worte kleideten sich in einer seltsamen Klangfarbe, beherrschten den Ausdruck frommer Schüchternheit, die mit einer eigentümlich suchenden und wohl dosierten Langsamkeit ihren Lippen entwich und ihre Sprache daher unnahbar erscheinen ließ.

      „Schieß’ los“, sagte der Moderator. „Was möchtest du uns mitteilen?“

      „Das Thema des heutigen Abends lautet das Böse?“, fragte sie zögernd.

      „Dies ist nicht unsere Quizsendung mit Richard Dawson am Nachmittag, aber der Kandidat hat dennoch recht. 10 Punkte! Das Böse. Lass hören, Mädchen.“

      „Ich … ich bin das Böse …“, erwiderte sie seufzend. Bingo, dachte sich McMillan. Damit konnte er arbeiten.

      „Also du bist das Böse, ja? Dann reden wir ja heute Abend eigentlich alle über dich. Warst du vielleicht die Frauengestalt, die unserer lieben Anruferin Charlotte von gerade eben immer im Schlafzimmer auflauerte? Bist du ein Geist, Selina?“, witzelte er spöttelnd.

      „Nein, bin kein Geist – nichts dergleichen. Aber für viele Menschen bin ich das Böse“, antwortete sie überaus sanftmütig. Die Tatsache, dass McMillans Sticheleien sie nicht verunsicherten, verärgerte den Moderator ein wenig. Daher versuchte er etwas auf sie zuzugehen, sie zu locken, zu ködern.

      „Ähm, wie darf man das auffassen? Du betrachtest dich als das Böse? Oder haben andere Angst vor dir?“, fragte er mit ernster Miene.

      „Andere haben mich dazu gemacht. Ich hatte keine Wahl. Ich … habe zeit meines Lebens versucht wie jedes andere Mädchen zu sein.“

      „Vielleicht schilderst du uns mal genau deinen Sachverhalt.“

      „Keiner fürchtet mich, weil keiner mich sieht. Ich bin nur eine Hülle. Für meine Kollegen auf der Arbeit bin ich die stille und unauffällige Büromaus, welche die Akten wegschafft, den Kaffee kocht und den Kram erledigt, für den die anderen keine Zeit haben“, erklärte sie.

      „In welcher Branche arbeitest du denn?“

      „In einer Agentur. Einer Redaktionsagentur, die die Publikation und Betextung von Magazinen betreibt.“

      „Verstehe, aber du bist jetzt nicht in die kreative Arbeit eingebunden? Also, du selbst schreibst keine Artikel für die Zeitschriften? Habe ich das richtig herausgehört?“

      „Das ist korrekt“, antwortete sie mit einem Anflug von Sehnsucht. „Ich hatte es mir früher immer erhofft, irgendwann mal Redakteurin bei einem erfolgreichen Magazin zu sein, aber das habe ich dann genauso schnell wieder aufgegeben wie vieles andere auch. Ich mache nur den Verwaltungskram im Hintergrund, den keiner zur Kenntnis nimmt. Ich selbst schreibe nichts …“ McMillans Mitleid hielt sich in Grenzen.

      „Okay, ich hab’ nur aus Interesse gefragt. Aber inwieweit hat das etwas mit unserem Thema zu tun?“

      „Wenn die Kollegen mich überhaupt wahrnehmen, dann sehen sie mich als scheinbar normalen Menschen. Ich lächle und lasse mir nie etwas anmerken, sie wissen nicht, wie es in mir aussieht. Denn unter der Haut, unter dem Fleisch, den Nerven und den Blutlaufbahnen bin ich ein Wolf. Sie können das nicht sehen, denn Wölfe zeigen sich nicht am Tag. Kreaturen wie jene kommen langsam des Nachts hervor, wenn die Finsternis hereingebrochen ist und die Lichter entzündet werden. Es ist dann nicht mehr dieselbe Welt, deswegen fürchten Menschen seit jeher die Dunkelheit. Die Luft kühlt sich ab, die Geräusche verändern sich, werden langsamer, vorsichtiger … angespannter. Die Menschen hasten zu ihren Mietskasernen, die sie wie Bollwerke der Zivilität anbeten, und verriegeln alle Türen. Sie ordnen ihre Scheckhefte, werfen was in die Mikrowelle, knallen sich