Zwielicht 11. Michael Schmidt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Schmidt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783746734484
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stand geschrieben: Romeo Montague

      Fabius hielt inne, als er von draußen im Garten eine Art Zischen und Blubbern vernahm. Ein winziges verstaubtes und durch Spinnweben verklebtes Fensterchen erlaubte ihm einen Ausblick. Unter einer von Rosen umwachsenen Pergola hantierte eine etwa 60-jährige, eindeutig zu fette Frau mit mausgrauen, schulterlangen Haaren an einem Tisch mit merkwürdigen Gerätschaften, die an ein mittelalterliches Alchemie-Labor erinnerten. Aus verschiedenen Erlenmeyerkolben und Reagenzgläsern mixte sie Flüssigkeiten von verschiedenster Farbe zusammen und goss das Ergebnis in einen mit kochendem Wasser gefüllten, bronzenen Topf, der über einem offenen Feuer hing.

      Dann nahm sie ein Buch vom Labortisch, um … noch einmal die Rezeptur ihres Gebräus zu kontrollieren, dachte Fabius . Doch weit gefehlt! Sie warf das Buch ebenfalls in den Topf und rührte anschließend sorgfältig mit einer Schöpfkelle darin herum. Nach ein paar Minuten nahm sie etwas von dem heißen Gebräu und goss es in eine gläserne Retorte, unter der die gelbe Flamme eines Bunsenbrenners brannte. Fabius hatte genug gesehen. Die alte Hexe hatte nicht alle Tassen im Schrank. Aber als er sich umdrehte, um möglichst unauffällig zu verschwinden, knallte sein Ellbogen gegen die wacklige Regalwand. Ihm entfuhr ein unwillkürlicher Schmerzensschrei. Aus dem Augenwinkel sah er, wie eines der Fläschchen vom obersten Brett herunterkippte. Im letzten Augenblick konnte er es auffangen, bevor es auf dem Boden zerschellte.

      „Wer ist da?“, rief eine Stimme aus dem Garten. „Mist!“, fluchte Fabius und ließ das Fläschchen in seine Jackentasche gleiten. Frau Molte hatte ihn entdeckt. Kurz darauf riss eine massige Gestalt die Tür des Gartenhauses auf. Mit der schweren Schöpfkelle in der Hand stand sie im Türrahmen und verstellte ihm jede Fluchtmöglichkeit.

      „Was haben Sie hier zu suchen?“, zischte Frau Molte. „Hier gibt’s nichts zu holen!“

      Fabius bemerkte, wie seine Knie anfingen zu zittern.

      „Ähh … Ich bin Fabius Flieder. Mein Großvater ist Inhaber der Buchhandlung Leseratte. Ich bringe Ihnen Ihren neuen Roman.“ Mit zitternden Händen hielt er der Frau die Plastiktüte entgegen.

      Frau Molte musterte ihn eine Weile mit misstrauisch zusammengekniffenen Augen von Kopf bis Fuß. Schließlich ließ sie langsam die Kelle sinken und riss Fabius die Tüte aus der Hand. Sie zog das Buch heraus und las genüsslich schmunzelnd den Titel vor: „Rendezvous bei Sonnenuntergang … von Bianca Myers …“ Ihre Augen strahlten vor Verzückung. „Oh Roderick, mein Roderick …“, schwärmte sie mit einem Zungenschnalzen. „Bald bist du mein und gehörst nur mir!“

      Fabius lief ein kalter Schauer über den Rücken. Irgendwie erinnerte ihn die Szene an einen gewissen Gollum aus dem Herrn der Ringe. Er hatte nur noch das Bedürfnis, hier schnellstmöglich zu verschwinden. „Kann ich … kann ich nun gehen?“, fragte er mit leiser, heiserer Stimme. Frau Molte, die den Roman fest an ihren üppig ausladenden Busen gepresst hielt, schien aus einer Art Trance zu erwachen. Ihr wütender Blick schien Fabius Stirn durchbohren zu wollen.

      „Selbstverständlich!“, fauchte sie und gab die Tür frei. „Verschwinden Sie endlich von meinem Grundstück. Ich hab zu arbeiten.“ Fabius zögerte einen Moment, da ihn die Enge des Gartenhauses dazu zwang, sich dicht an Frau Moltes Leibesfülle vorbeizudrängen. Dann gab er sich einen Ruck und stolperte vor lauter Hast beinahe aus der Tür ins Freie. Erleichtert sog er die kühle, frische Abendluft in seine Lungenflügel und lief durch den Garten Richtung Straße. „Einen schönen Abend wünsch ich …!“, beeilte er sich noch, Frau Molte über seine Schulter zurückblickend, zuzurufen. Doch die Frau war bereits wieder verschwunden.

      Als der Bücherbote wieder auf seinem Fahrrad saß, erfasste ihn eine wahre Euphorie, als er fühlte, wie der Fahrtwind den Schweiß auf seiner Stirn trocknete. Vor lauter Erleichterung, dieser widerlichen Hexe entkommen zu sein, fing er an, laut lachend einen alten Schlager zu singen. Aber schon bald fiel ihm sein Großvater ein, der ihm dieses Erlebnis der besonderen Art eingebrockt hatte, und seine Laune verdüsterte sich um zwei Grautöne. Er nahm sich fest vor, seinen lieben Opa noch in dieser Nacht zur Rede zu stellen. Inzwischen durchquerte er den Park und musste sich in der Dunkelheit darauf konzentrieren, tückischen Schlaglöchern auszuweichen.

      Am Wegesrand sah er auf einer Bank eine Gestalt im Schlafsack liegen. Fabius war sofort klar, dass es sich um den Obdachlosen von vorhin handeln musste. Der alte Kauz hatte ihn offensichtlich auch wiedererkannt und winkte ihm mit einer matten Armbewegung zu. Fabius hörte, dass der Mann leise vor sich hin wimmerte und stieg daher aus Sorge vom Rad.

      „Was ist los mit Ihnen?“, fragte er und trat etwas näher, bis er das Gesicht im Licht des hellen Vollmondes erkennen konnte. „Meine Güte!“, stieß Fabius erschrocken aus. „Sie sehen ja aus wie ein Zombie, der unterm Grabstein hervor gekrochen kommt.“

      „Wen selbst noch nie ne Wunde quälte, der macht sich über Narben lustig“, murmelte der Obdachlose erschöpft.

      Fabius überlegte, ob er einen Krankenwagen rufen sollte, da kam ihm eine Idee. Aus der Jackentasche zog er das Fläschchen aus Frau Moltes Gartenhaus hervor und dachte bei sich: Warum nicht Teufel mit Beelzebub austreiben?

      „Hier, guter Mann … Trinken Sie das. Es wird Ihnen gut tun.“ Das bleiche Gesicht des Alten hellte sich vor Freude auf. „Schnaps! Wunderbare Idee … Besten Dank, mein Guter.“

      Er setzte das Fläschchen an den Mund und im Nu gluckerte die klare Flüssigkeit seinen Rachen hinab. Gespannt wartete Fabius auf eine Reaktion des Mannes. Mit zufriedenem Seufzen gab der dem Bücherboten das leere Gefäß zurück und machte Anstalten sich auf der Bank auf die Seite zu drehen, vermutlich, um endlich Schlaf zu finden. Doch abrupt setzte sich der Alte auf, starrte verwirrt in den sternklaren Himmel und stieß einen animalischen Schrei aus. Fabius war das nicht geheuer, deshalbwollte er sich schon auf seinem Fahrrad davonmachen, da rief ihm der Obdachlose zu:

      „Oh Baby. Willkommen in meiner Welt.“ Fabius wurde neugierig und sah fasziniert zu, wie der Kerl flink aus dem Schlafsack kletterte und sich vor ihm dynamisch aufbaute, als sei er mit einem Mal zwanzig Jahre jünger geworden.

      Etwas unsicher und ängstlich wich Fabius einen Schritt zurück. „Uups … Was ist denn mit Ihnen passiert?“ Während er antwortete, schaute der Obdachlose Fabius mit einem überheblichen Blick von oben herab an. „Ich treffe Entscheidungen, die auf Logik und Fakten basieren und besitze einen gesunden Instinkt, der gute, realistische Ideen und fähige Leute erkennt. Am Ende kommt es immer auf die fähigen Menschen an.“

      Vor Staunen fiel dem Bücherboten die Kinnlade herunter. Als er prüfend einen Blick auf das Etikett des Fläschchens warf, las er: Christian Grey.

      „Na dann … Prost Mahlzeit!“, konstatierte Fabius mit säuerlichem Gesichtsausdruck. „Und noch viel Spaß mit Ihrem neuen Mitbewohner …“, verabschiedete er sich mit einem letzten Winken und radelte davon.

      „Ich würde gerne in diese Lippe beißen“, rief ihm der Alte noch hinterher.

      Fabius hätte eigentlich ein schlechtes Gewissen haben müssen, weil er dem armen Kerl die Essenz dieses Sado-Maso Milliardärs eingeflößt hatte. Andererseits: Hauptsache, dass Romeos Geist wieder frei war.

      „Es hatte rote Augen und war kreidebleich. Die Gestalt sagte nichts, sondern starrte mich aus tiefen, leblosen Augen an. Es war, als würde ich in einen Abgrund schauen.“

      Auf diese Nachricht brauchte er erst mal einen Schluck. Henry McMillan nahm das Glas Wasser, um seine Stimme zu ölen. Schließlich ließen die Sorgen und Wünsche der Menschen, die ihm ihr Anliegen fünf Mal die Woche mitteilten, seine Zunge nicht zur Ruhe kommen. Das Zuhören und Sprechen waren die beiden wichtigsten Instrumente in seinem Beruf; gleichwohl schaffte er es bis heute nie, beide Anforderungen ganz in der Waage zu halten. Dabei erhielten die Menschen, die ihn um eine Audienz ersuchten, nie die Gelegenheit sein Gesicht zu sehen, sondern hofften einzig auf die Kraft seiner Stimme.

      Henry McMillan war ein ungeschlachter Mann mittleren Alters mit drahtigen