Zwielicht 11. Michael Schmidt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Schmidt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783746734484
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hast du genau getan?“, fragte McMillan.

      „Das werde ich hier sicher auch wortwörtlich mitteilen“, lautete ihre ironische Antwort. Okay, Fräulein, dachte sich der Moderator. Du willst spielen? Dann lass uns spielen.

      „Aber Wölfe gehen nachts auf die Jagd. Hast du das auch getan?“, fragte er.

      „Ja“, sagte sie lakonisch.

      „Du bist also in der Nacht durch die Stadt geirrt und hast Ausschau nach einem … Opfer gehalten?“

      „Ja …“ Wieder folgte keine Ausführung, was McMillans Ärger nur anheizte, aber er versuchte, es nicht durchscheinen zu lassen, wusste er doch, dass er dieser Göre heute Abend noch verbal einen über den Schädel ziehen würde. Das sollte ihr recht geschehen mit ihrer pseudo-nebulösen Art.

      „Hast du eines gefunden?“, fragte er daher weiter.

      „Sehr selten …“

      „Aber du bist schon mal fündig geworden?“

      „… ja.“

      „Hast du es mehrmals … naja, getan?“

      „Bisher nur zweimal …“

      „Tss, willst du mir etwa ernsthaft sagen, dass du zwei Menschen umgebracht hast?“, fragte er sarkastisch.

      „Glauben Sie das etwa?“, erwiderte Selina unbeeindruckt zurück. Nun wollte McMillan sie mehr aus dem Konzept bringen als zuvor.

      „Du willst mir also erzählen, dass du ein Werwolf bist? Weißt du, ich glaube einfach, dass du zu viel von diesem Twilight-Scheiß geguckt hast. Stimmt es oder habe ich recht?“

      Eine kurze Pause trat ein, doch sie war lang genug, um McMillan das Gefühl zu geben, dass er sie nun vergrault hätte. Thomas Lee und der Praktikant hielten im Aufnahmeraum den Atem an, allerdings machten sie auch deutlich, dass die Frau sich noch immer in der Leitung befand. Plötzlich war sie wieder da.

      „Wissen Sie, Ihr Hohn kommt mir bekannt vor. Er erinnert mich daran, wie ich bereits als Mädchen Angst vor der Schule hatte“, antwortete Selina feinfühlig; sie war ruhiger als zuvor.

      „Aha. Und weshalb das?“, fragte der Moderator nun unverhohlen despektierlich.

      „Dort wurden meine Klauen geschärft. Ich ergab mich meiner Rolle mit Herz und Hand, nachdem mir alle Menschlichkeit geraubt wurde.“

      „Wirklich? Nun, tut mir ja wirklich leid, dass du nie jemanden zum Spielen hattest und deswegen deinen Charakter so weggeschmissen hast, Selina, aber ich denke …“

      „Wissen Sie, wie sie mich damals genannt haben?“, unterbrach sie ihn scharf.

      „Nein, weiß ich nicht. Woher auch?“, fragte der Moderator entnervt.

      „Nicht nur auf dem Schulhof. Nicht nur die Kinder. Das ganze Dorf. Für sie war ich kein Mensch mehr.“ Doch Henry McMillan hatte endgültig die Geduld und auch das Interesse an einer weiteren Diskussion verloren. So verlottert, wie diese Schlampe sprach, musste sie vorher zweifelsfrei die falschen Pillen eingeworfen haben. Er wollte sie aus der Sendung werfen und wanderte mit dem Zeiger der Maus bereits in Richtung des Change-Buttons.

      „Interessant, also wir würden dann …“, setzte er an, wurde aber zugleich unterbrochen.

      „Sie nannten mich das Hanky-Panky-Mädchen …“, hauchte die Anruferin. Augenblicklich wurde in McMillan ein innerer Akkord angeschlagen. Dabei hatte er ihren Worten kaum noch Beachtung geschenkt und dennoch empfand er ihre Aussage als etwas unterschwellig Bedrohliches. Es handelte sich nur um wenige Sekunden, die zwischen ihren Worten und seiner Nachfrage lagen, und doch sah er sich gezwungen diese Frau noch einmal anzusprechen.

      „Wie?“, war die einzige Frage, zu der er imstande war.

      „Hanky Panky …“, flüsterte Selina in einem hohen Ton zurück. „Sie nannten mich nur das Hanky Panky-Mädchen …“

      „Hanky Panky?“, fragte er nach, so als hätte er es nicht verstanden. Selbst in der Aufnahmeleitung merkten die beiden anderen Mitarbeiter, dass etwas mit McMillan nicht stimmte. Für kurze Zeit hatte er sich mental komplett ausgeklinkt und war erst wieder anwesend, als sich die fremde Anruferin namens Selina O' Reilly wieder zu Wort meldete.

      „Für sie war ich nur das Hanky Panky-Mädchen … Selina O' Reilly hingegen bloß ein wagemutiger Gedanke. Ein Mensch, der nicht existieren durfte. Und wenn, dann nur in der Vorstellung.“ Langsam fasste der Moderator sich.

      „Ähm, kannst du vielleicht genauer darauf eingehen, was es mit Hanky Panky auf sich hat? Du wurdest gemobbt?“

      „Mobbing?“, wiederholte Selina, als kenne sie die Bedeutung des Wortes nicht, „nun wie man so was nennt, weiß ich nicht. Aber eines weiß ich: Für die Menschen in dem kleinen, katholischen Dorf war ich der singende, tanzende Dreck der Welt. Es gab keinen Tag, an dem man sich nicht nach mir umdrehte und tuschelte. Überall flüsterte man mir nach: Hanky Panky. Ich hatte jeden Morgen unglaubliche Angst zur Schule zu gehen. Dass man mich schließlich dazu zwang die Schulbank zu drücken, verschärfte es nur noch. Immerhin wussten die anderen auf diese Weise, wie sie mir schaden konnten. Nun, wo sie sahen, dass ihre Saat aufging, wollten sie schauen, wie weit sie es treiben konnten. Zuerst lästerte man nur hinter meinem Rücken, dann ganz unverhohlen, sodass ich es auch ja mitkriege. Schließlich mussten die Mitschüler keine Konsequenzen befürchten. Zuerst wurde ich nur gehänselt, dann verhöhnt, schließlich gequält …“

      „Und weiter?“, fragte McMillan. Alle Gedanken Selina aus der Sendung zu kicken, ließ er fallen.

      „In den Pausen habe ich nicht viel mitbekommen, weil ich mich auf der Mädchentoilette versteckte und erst rauskam als es klingelte. Am schlimmsten aber war der Sportunterricht – nicht etwa, weil ich unsportlich gewesen wäre, sondern weil wir dort lange Zeit auf uns alleine gestellt waren, ohne Lehrer. Wenn Erwachsene dabei waren, ging es ja noch vergleichsweise milde zu – auch wenn sie nie Einspruch gegen die Kinder erhoben. War keine Aufsichtsperson da, gab es keine Hemmschwelle.“

      „Was hat man genau mit dir gemacht?“

      „Naja, natürlich unter die Dusche gesteckt, oder wenn ich mich durchsetzen konnte, wurden zur Strafe meine Tasche und alle meine Unterlagen unter die Dusche gesteckt. Nicht, dass sie etwas hätten zerstören können, das mir teuer gewesen wäre, ich hatte ja ohnehin nichts. Aber noch schlimmer waren die Jungs. Die Mädchen hassten mich, weil ich für sie das symbolisierte, wovor sie sich fürchteten und wie sie niemals enden wollten. Aber die Jungs betrachteten mich wie ein Tier, ein totes Tier. Von ihnen zu hören, dass ich hässlich sei und stinken würde – ich habe mich gewaschen wie jeder andere auch – war einfach zerfleischend. Ihr Spott zog mir die Haut von den Knochen. Vom anderen Geschlecht zu hören, dass nie jemand so lebensmüde sein würde, sich in mich zu verlieben, war wie der ausschlaggebende Grund, den die Mädchen in meiner Schule gesucht hatten, um mir das Leben zur Hölle zu machen. Einmal habe ich erfahren, dass einer der Jungs eine Wette verloren hatte, und mich zur Strafe um ein Date bitten musste. Als die ultimative Mutprobe sozusagen. Und alle nannten mich Hanky Panky – und nicht Selina O’Reilly.“

      „Hast du denn nie versucht, dich dagegen zur Wehr zu setzen …“

      „Was hätte ich denn machen sollen?“, herrschte Selina ihn an. Dann verfinsterte sich ihre Stimme. „Ich habe mal versucht aufzubegehren. Aber wie soll sich einer gegen alle durchsetzen? Nein, das hat es nur noch schlimmer gemacht. Ich trug zum Beispiel fast ausnahmslos immer dieselben, abgetragenen Klamotten, die sich über die Zeit langsam aufzulösen begannen, weil meine Mutter nicht viel hatte, um es für neue Kleidung auszugeben. Meine weiße Bluse verfärbte sich zu gelb und die kruden Träger meines BHs schienen immer weiter hindurch. Aber eines Tages, als die Weihnachtsferien zu Ende gingen, bekam ich endlich ein neues Kleid. Ich war so stolz darauf und kann mich bis heute an jedes Detail erinnern. Ein reizender Rock, der bis zu meinen Knien reichte. Statt schmandiger Kniestrümpfe nun schwarze