Gungo Large - Spiel mir das Lied vom Troll. Thomas Niggenaber. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Niggenaber
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754118160
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in Richtung Herrenhaus, dem größten und nächstgelegenen Gebäude der Tolemak-Ranch. Er wählte dabei den kürzesten Weg nach Norden, quer über die Koppel hinweg und zwischen den erstarrten Rindern hindurch. Diese schenkten ihm keinerlei Beachtung. Selbst als er einem der Tiere kräftig am Schwanz zog, zeigte es keinerlei Reaktion.

      Merluzo Fuerte de la Raqueta war kein Feigling. Wie alle Orks verfügte auch er über ein hohes Maß an körperlicher Kraft. Außerdem fehlte es ihm schlicht an der nötigen Fantasie, sich unbekannte Gefahren ausmalen zu können. Allmählich jedoch erwachte die Furcht in ihm.

      Zu dieser gesellte sich die Verärgerung darüber, dass sich dieser Vorfall ausgerechnet während seiner Wache ereignen musste – einer Wache, die zudem niemand außer ihm jemals hatte halten müssen. Lediglich die Aussicht auf eine mögliche Gelegenheit, vielleicht mal wieder irgendwas wegballern zu können, beschwichtigte ihn etwas.

      Kurz bevor er die Ranch erreichte, drangen Stimmen, Lachen und andere Geräusche aus den nordöstlich gelegenen Unterkünften der Bediensteten zu ihm. Seine Kollegen genossen offensichtlich ihren Feierabend. Anstatt den Neid in ihm zu wecken, beruhigten ihn diese vertrauten Töne. Sie brachten etwas Normalität zurück in diesen etwas außergewöhnlichen Abend.

      Auch Don Athuros Herrenhaus, ein dreistöckiges Gebäude aus weiß gestrichenem Holz mit zwei Kaminen und einem Sockel aus roten Backsteinen, lag nun friedlich und ruhig vor ihm. Die ihm zugewandte Rückseite des beeindruckenden Hauses wirkte vergleichsweise schlicht im Gegensatz zur Front, welche von einer ausladenden, prachtvollen Veranda geschmückt wurde. Doch die hohen Sprossenfenster und das mit grauen Schindeln gedeckte Dach versprühten auch nach hinten eine Eleganz, welche offensichtlich Einfluss und Status des Hausbesitzers widerspiegeln sollte.

      Oft schon hatte Merluzo sich gewünscht, einmal das Innere dieses vornehmen Gebäudes besichtigen zu dürfen. Doch das war neben den Bewohnern nur den Hausangestellten und dem Vorarbeiter gestattet. Einem kleinen Hilfsarbeiter wie ihm, der es noch nicht einmal bis zum Viehtreiber gebracht hatte, würde diese Ehre niemals zuteil werden. Er hätte wohl auch gar nicht gewusst, wie er sich in solch einer Umgebung hätte benehmen müssen. Bei dem Gedanken daran, mit schmutzigen Stiefeln über den bestimmt überall ausliegenden, teuren Teppich zu latschen und dabei dicke Kautabakflecken auf dem erlesenen Mobiliar zu hinterlassen, musste Merluzo unwillkürlich Grinsen.

      Dieses Grinsen erstarb jedoch schnell, als ein ihm unbekanntes Geräusch an seine spitzen, ungewaschenen Ohren drang. Irgendetwas Großes hatte sich bewegt, zu seiner Linken, hinter der westlichen Ecke des Hauses.

      So leise es ihm seine grobe Motorik und die Sporen an seinen Stiefeln gestatteten, bewegte Merluzo sich dorthin. Im Westen lagen die Pferdeställe, doch dieses Geräusch hatte eindeutig nicht so geklungen, als hätte ein Pferd es verursacht. Es hatte den Ork an das Rascheln von Gefieder erinnert. Er konnte sich jedoch beim besten Willen nicht vorstellen, wie groß das Federvieh sein musste, das ein Rascheln dieser Lautstärke erzeugen konnte.

      War es etwa ein Monsterhuhn, dass hinter der Ecke lauerte? Ein Pollo Diablo, jenes Wesen aus den Ammenmärchen, mit dem man in seinem Heimatland die Kinder erschreckte und ihnen drohte, wenn sie nicht artig waren?

      Seine Hände verkrampften sich um seine Schrotflinte, so dass die Gelenke seiner Finger ein leises Knacken von sich gaben. Dann spannte er die beiden Hähne seiner Waffe mit dem Daumen, so leise und behutsam, wie es ihm möglich war. Nur noch ein Schritt trennte ihn davon, um die Hausecke spähen zu können. Er nahm all seinen Mut zusammen, atmete tief ein und wagte diesen Schritt.

      Was er dann zu sehen bekam, jagte einen kalten Schauer über seine grüne Haut. Der Schreck stimulierte spontan seinen Schluckreflex, sodass sich der Rest Kautabak, welcher noch in seinem Mund verblieben war, heftig brennend seinen Weg durch die Speiseröhre in den Magen bahnte. Dieses Ungemach registrierte er jedoch gar nicht aufgrund des Anblicks, der sich ihm bot.

      Das erste Mal in seinem Leben erblickte Merluzo einen leibhaftigen Greif. Größer als ein ausgewachsener Bisonbulle lag das Wesen da, den weiß gefiederten Kopf, der dem eines Adlers stark ähnelte, auf den Vorderpfoten ruhend. Die gewaltigen, ebenfalls weißen Schwingen hatte es angelegt. Hin und wieder zuckte einer der Flügel leicht und verursachte so eben jenes Rascheln, das Merluzo vor Kurzem vernommen hatte. Ansonsten zeigte der massige, raubkatzenartige Körper keinerlei Regung.

      Die geschlossenen Augen und das leise Schnarchen, das aus dem gebogenen, leicht geöffneten Schnabel drang, ließen Merluzo dann endlich begreifen, dass der Greif dort ein Nickerchen machte. Von der Anwesenheit des Orks hatte das beeindruckende Tier noch keinerlei Notiz genommen.

      »Wegballern!«, war natürlich das erste, was Merluzo in den Sinn kam. Er verspürte nicht das Bedürfnis, herausfinden zu wollen, was dieses Wesen mit ihm anstellen würde, sollte es ihn bemerken. Dem Greifen zwei Ladungen aus seiner Flinte in den Leib zu jagen, würde der Gesundheit des Orks wohl wesentlich zuträglicher sein. Doch dann bemerkte er das Zaumzeug und den Sattel, was den Greifen eindeutig als Reittier kenntlich machte. Dieses Vieh hatte jemanden hierher gebracht. Doch wo war dieser jemand jetzt?

      Von weiteren Überlegungen oder Handlungen hielt ihn der heftige Schlag ab, der ihn plötzlich von hinten traf. Irgendetwas knallte an seinen Hinterkopf, riss ihm den Sombrero herab und schickte ihn augenblicklich zu Boden. Vor seinen Augen erschienen Millionen schwarzer Flecken, die sich immer mehr zu einer Schwarzen Fläche verdichteten und ein dumpfer Schmerz machte sich in seinem Schädel breit. Einen so heftigen Schmerz hatte das Denken dann doch noch nie in ihm verursacht.

      Noch nicht ganz ins Land der Träume entschwunden, spürte er, wie ihm jemand seine geliebte Schrotflinte aus den Händen nahm. Es gab nichts, was er dagegen hätte unternehmen können. Dann hörte er gedämpft, so als hätte er Watte in den Ohren, Stimmen und Schritte, die sich von ihm entfernten und in Richtung des Greifen bewegten.

      Einen starken Luftzug und das Schlagen riesiger Flügel vernahm er noch, dann schwanden ihm endgültig die Sinne.

      2

      Es gibt vieles, was ich nach einer durchzechten Nacht im Saloon so ganz und gar nicht gebrauchen kann – lautes Klopfen an meiner Tür rangiert auf dieser Liste ganz weit oben.

      Ich ignorierte deshalb diese dreiste Störung meines Deliriums an jenem Morgen und zog mir meine Decke über den Kopf. Dabei versuchte ich, jede überflüssige Bewegung zu vermeiden, damit sich das Rindvieh in meinem Kopf weiterhin einigermaßen ruhig verhielt.

      Diese Kuh – ich hatte sie Elsa getauft – war in diesen alkoholreichen Tagen oft zu Gast in meinem Schädel. Sie vollzog dort meist irgendwelche wilden Tänze, deren Schritte äußerst schmerzhaft und dröhnend in meiner Hirnschale widerhallten. Nur enorm viel Schlaf und körperliche Inaktivität vermochten es, ihr Einhalt zu gebieten.

      Das zweite Klopfen weckte darum den aufrichtigen Hass gegen den Verursacher dieses Geräusches in mir. Doch Elsas erste Tanzschritte hielten mich davon ab, mich mit seinem Ableben zu beschäftigen.

      Erst das dritte Klopfen, das mir beinahe heftig genug erschien, die Tür aus den Angeln zu heben, ließ meinen Zorn über Elsa triumphieren und mich aus meinem Bett hochfahren. Jeglichen Schmerz unter meiner Schädeldecke ignorierend und lauthals fluchend stürmte ich zur Tür meines kleinen Zimmers. An den genauen Wortlaut meiner Flüche kann ich mich nicht mehr erinnern, die Worte verrecke, Arschloch und Kopf abreißen kamen aber bestimmt darin vor.

      Mit dem festen Vorsatz also, dem Störenfried unendliche Schmerzen zu bereiten, riss ich die Tür auf. Doch der Anblick meines unerwünschten Besuchs ließ mich dieses Vorhaben schnell wieder vergessen. Es wäre wohl nicht besonders ratsam gewesen, dem örtlichen Arm des Gesetzes selbigen zu brechen. Denn es war Beinir McHardy der vor mir stand, der Sheriff unserer kleinen Zwergensiedlung Copperhole.

      McHardy war offensichtlich darum bemüht, mir gegenüber sofort Autorität und Respekt auszustrahlen. Der Umstand, dass er gut einen Kopf kleiner war als ich, machte ihm dies allerdings nicht gerade einfach. Nur das Gewehr in seiner Hand und der Stern auf seiner Brust glichen dieses Manko zum Teil wieder aus.

      Natürlich hatte er auch seinen Deputy dabei, einen widerlichen