Was ich Sie fragen will und muß, meine Damen und Herren, ist nur dies: Hatte der Vortrag, den Fräulein von Kammer uns geboten hat, irgend etwas, auch nur das allermindeste mit Rußland zu tun? Ist dieses komplexe und schwierige Problem nicht an den Haaren herbeigezogen worden? – Fräulein von Kammer hat uns gezeigt, was Deutschland war, und was es wieder werden könnte. Sie mußte das gegenwärtige Deutschland anklagen, da sie das Deutschland einer großen geistigen Vergangenheit und einer großen geistigen wie realen Zukunft feiern wollte.
Die Rednerin hat keinen Anlaß zu der Vermutung gegeben, daß sie mit irgendeiner Diktatur sympathisiere. Welche aber wird sie am stärksten hassen? Diejenige, natürlich, die sie am besten kennt – und die ihr eigenes Volk, ihre Heimat erniedrigt. Es ist die Tyrannis im Herzen Europas – die Gefahr und die Schande der Welt; es ist der Nationalsozialismus!«
Nun war er es, der heftig atmete und die tief gerötete Stirne zeigte, wie vorhin der Jüngling mit dem adretten Scheitel. Der saß jetzt ziemlich kläglich in sich zusammengesunken.
Mrs. Piggins, auf dem Podium, raunte Marion ins Ohr:
»Einen besseren Advokaten hätten Sie gar nicht finden können! Professor Abel genießt hier das größte Ansehen. Sicher haben Sie schon von ihm gehört – Professor Benjamin Abel, aus Bonn …«
13
Dank Professor Abels energischem Eingreifen hatte das Meeting einen harmonischen Abschluß gefunden. Marion empfing die herzlichsten Komplimente von Herren und Damen, Professoren, Studenten und jungen Mädchen; es war der gewohnte Triumph. Der gewählte Kreis, den Mrs. Piggins zu einer kleinen »party« in ihr Haus geladen hatte, befand sich in feierlich-animierter Laune.
Das Heim der Dame Piggins lag ein wenig außerhalb des Städtchens; die Gäste wurden in mehreren Automobilen befördert. Ein weißhaariger Kavalier mit Knebelbart und feiner, pfiffiger Miene bat Marion scherzhaft-artig, mit seinem bescheidenen Ford vorlieb zu nehmen. Es war ein reizender alter Herr, sowohl schalkhaft als würdig. »Ihr Vortrag war ganz vortrefflich«, sagte er seiner Dame, wobei er ihr in den Wagen half. »In der Tat: Sie haben mir große Lust gegeben.« – Er redete deutsch, gewandt, wenn auch mit drolligem Akzent; zuweilen ging es ein bißchen daneben – so die Wendung über die »Lust«, die Marions Darbietung ihm gegeben hatte.
Sie mußte lachen, weil es komisch war; schämte sich gleich und war erst wieder beruhigt, als sie ihn heiter reagieren sah. Er drohte ihr mit dem Finger; hinter der goldumrandeten Brille blitzten die blauen Augen, lustig und gescheit. »Lachen Sie nur, gnädiges Fräulein – es steht Ihnen gut zu Gesicht, und ich mag Personen, die sich amüsieren können! Habe ich vorhin etwas Dummes gesagt? Ja, ja, ich vergesse die schöne, komplizierte deutsche Sprache! Sie müssen wissen, ich bin seit dem Jahre 1912 nicht in Europa gewesen. – Das ist lange her«, sprach der alte Herr. Dabei füllte sein Blick sich mit Wehmut. Erinnerungen enthalten immer auch Traurigkeit; sie erfreuen und betrüben das Herz. Der alte Herr lächelte, selig und melancholisch, weil er an Heidelberg dachte. Dort hatte er studiert. – »Wie schön ist Deutschland gewesen!« meinte er sinnend.
Er hieß Franklin P. Schneider und leitete das Germanistische Department der Universität. Seine Eltern stammten aus Hamburg. Er liebte Heines »Buch der Lieder«, Goethes »Faust« – aus dem er Partien ins Englische übersetzt hatte – Wagners »Lohengrin« und den »Grünen Heinrich« von Gottfried Keller. Er besaß eine Kollektion von Bierseideln aus Bayern und Tirol. Bei festlichen Gelegenheiten spielte er Wiener Walzer auf dem Pianoforte – alles sprach dafür, daß er sich heute abend dazu bereit finden würde. Er hatte in Berlin den jungen Kaiser bei der Parade und die Uraufführung von Hauptmanns »Webern« gesehen.
Er war Benjamin Abels Vorgesetzter. »I like Ben«, erklärte Professor Schneider mit warmem Nachdruck. »As a matter of fact, I am very fond of him. He is a grand fellow. Have you met him before?« – Nein, Marion hatte erst heute das Vergnügen gehabt. »Er macht einen sehr guten Eindruck«, sagte sie und sah plötzlich zerstreut aus.
Bei Mrs. Piggins gab es Bier und Sandwiches mit einem Käse, der »Liederkranz« hieß – alles zu Ehren des deutschen Gastes. Später wurde Whisky und Soda gereicht. Mr. Piggins, der Hausherr, war ein lustiger Onkel, er betonte: »Zu Vorträgen gehe ich niemals. Sie machen mich schläfrig.« Er interessierte sich für sein Geschäft, das genug Sorgen und Probleme mit sich brachte. »Was gehen die europäischen troubles mich an?« fragte er Marion. Er unterhielt sich glänzend mit ihr. – »Wir haben unsere eigenen Schwierigkeiten«, erklärte Mr. Piggins. Er sprach von den Arbeitslosen in den USA und von den gefährlichen Konsequenzen des »New Deal«. – »Eines muß man unserem Präsidenten lassen«, gab Piggins zu. »Er hat Courage. Ich bewundere ihn, weil er Courage hat. Aber als Geschäftsmann muß ich doch konstatieren …«
Seine Ansichten und Spekulationen waren für Marion lehrreich und unterhaltend. Mr. Piggins war realistisch, dabei nicht ohne Neigung zum Philosophischen. Er verstand: Die Welt verändert sich, das neunzehnte Jahrhundert ist vorbei – mit ihm die Epoche des unbegrenzten Liberalismus. »Wenn wir unsere Freiheit bewahren und verteidigen wollen, müssen wir sie vernünftig begrenzen.« Dies begriff und billigte Mr. Piggins. Er sagte: »Ich bin nicht reaktionär. Alles Neue hat meinen Beifall, sogar wenn es Opfer kostet. Gewerkschaften müssen wohl sein; die Leute wollen ihre Interessen kollektiv vertreten.« – Andererseits mochte er sich das Geschäft nicht verderben lassen. »Und wenn ich meine Bude nun zumache wegen der hohen Steuern?« Er fragte es etwas drohend. »Wer hätte etwas davon? Es gäbe noch ein paar Dutzend neuer Arbeitsloser …«
Marion hütete sich, Einwände zu machen. Sie hätte es als unschicklich empfunden, sich in Angelegenheiten zu mischen, von denen sie nicht genug wußte; und übrigens war sie müde. Es tat ihr wohl, zu lauschen, anstatt zu reden. Wie angenehm – in einer Sofaecke zu ruhen, vor sich das Whiskyglas, zwischen den Fingern die Lucky-Strike-Zigarette, und sich von einem nachdenklichen Businessman in die Details der amerikanischen Verwaltung einweihen zu lassen! Er sprach von Spannungen und Hoffnungen; von Leistung und von Versagen. Er vertiefte sich in den Personalklatsch von Washington, nachdem er die großen Prinzipien und ihre Auswirkungen in der Praxis humorvoll-gründlich untersucht hatte. Er war sorgenvoll, aber im Grund optimistisch. Er meinte: »Wir sind ein großes und gesundes Volk – auch ein reiches – warum sollte es mit uns schiefgehen? Wir sind jung. Das sind alles nur Kinderkrankheiten.«
Marion bemerkte plötzlich – mit leichtem Schrecken – daß sie nicht mehr aufmerksam zuhören konnte. Die Stimme des Mr. Piggins ward undeutlich; umso eindringlicher klang die des Professors Abel. Er saß am Kaminfeuer, mit Mrs. Piggins, dem wohlwollenden Kollegen Schneider und einem jungen Mann, der ein intelligentes, ziemlich hübsches, sehr braungebranntes Gesicht zeigte. Abel sagte: »Das war eine heikle Diskussion heute abend. Wahrscheinlich habe ich meinen Ruf ruiniert. Mein charmanter Kompatriot, gegen den ich polemisieren mußte, wird verbreiten, ich sei Kommunist. Manche werden es glauben …«