»Geist – bist – du – da?«
Der Tisch neigte sich.
»Er ist gekommen«, sagte Gabriele flüsternd.
»Wer denn?« fragte Bärbel neugierig.
»Das werden wir erkunden«, meinte Gabriele.
»Geist – wer bist du? – Gib Antwort auf unsre Frage.«
»Kann der Geist reden?«
»Nein, – paßt nur auf!« Und nun nannte Gabriele der Reihe nach die Buchstaben des Alphabetes. A, B, C, und so fort.
Bärbels Herz klopfte stürmisch. Wenn doch jetzt ihr geliebter Gotenkönig, der schwarzhaarige Teja, in dem Tische säße. Sie schwärmte so furchtbar für diesen unglücklichen Mann. Angstvoll verfolgte sie jedes Neigen des Tisches. Als er bei dem Buchstaben R nur noch ganz leise wackelte, stieß ihn Bärbel in ihrer Begeisterung kräftig weiter, immer noch einmal, immer noch, bis endlich der Buchstabe T erreicht war. Dann hielt sie den Tisch fest.
Nun ging es von vorn los. Wieder wartete Goldköpfchen in angstvoller Spannung, um beim Buchstaben E die Hände fest auf die Platte zu pressen. Schließlich hatte man den Teja herausgefunden, und triumphierend schaute sich Gabriele im Kreise um.
»Der unglückliche Gotenkönig sitzt unter uns, – der letzte seines Volkes. – Was soll er uns künden?«
»Wer die anonymen Briefe in der Schule schreibt«, flüsterte Bärbel.
»Richtig! – Hoher Gotenkönig, sage es uns, wer unsere Mitschülerinnen in so gemeiner Weise beschimpft? Sprich, künde aus dem Jenseits, wer es ist!«
Jetzt half Bärbel nicht mehr nach. Sie war selbst viel zu gespannt, von wem alle diese Niederträchtigkeiten kamen. Sie selbst war bisher mit solch einem häßlichen Briefe verschont geblieben, aber Edith, Valeska, Trude und noch viele andere hatten derartige Schreiben erhalten.
Gabriele begann wieder die Buchstaben aufzuzählen. Der Tisch wackelte und wackelte, bis er endlich bei W halt machte.
»Wanda?« ging es im Kreise umher? Wanda war eine sehr unbeliebte Obersekundanerin.
Richtig, bei A hielt der Tisch zum zweiten Male an.
Dann wackelte er weiter. Man buchstabierte Wag, dann ging es weiter »Wagn«, auch der Vokal E kam noch. Da sprang Bärbel auf.
»Du bist wohl verrückt? Ich habe diese Briefe nicht geschrieben!« Laut schlug sie mit der Faust auf die Tischplatte.
Die Umsitzenden schauten verlegen und mißtrauisch auf Bärbel.
»Das habt ihr gemacht«, rief Bärbel, »ihr habt den Tisch hin und her gedrückt, um mich zu ärgern.«
»Nein, der Gotenkönig.«
»Quatsch! Meint ihr, der Gotenkönig sitzt in diesem Tisch? Das ist ja alles dummes Zeug! Wenn ihr mir so Gemeines zutraut, komme ich nie wieder zum Kaffee zu einem von euch.«
»Aber, Bärbel«, beschwichtigte Edith, »das glaubt doch keiner von dir.«
»Doch, einer muß es glauben, sonst hätte er den Tisch nicht so lange hin und hergeschoben, bis mein Name daraus wurde. Solch ein Blödsinn, ein Geist soll in einen Holztisch kriechen. Ich pfeife auf den Geist!«
»Er hat sich eben geirrt«, beschwichtigte Gabriele. »Vielleicht gibt es eine zweite Wagner, die die Briefe geschrieben hat.«
»Mich habt ihr damit kränken wollen!«
Man widersprach lebhaft. Man versicherte Bärbel der innigsten Freundschaft. Nur die kleine schelmische Lisa lächelte verstohlen dazu.
Aber Bärbel machte ihrem entrüsteten Herzen unentwegt Luft, schimpfte auf die Geistersitzung, auf Teja, auf allen Aberglauben und auf die Anwesenden.
Währenddessen hatte Lisa ihre Mitschülerin Edith auf die Seite gezogen.
»Ich war es, Edith, ich habe gemerkt, wie Bärbel durchaus den Teja haben wollte, und wie sie den Tisch gewaltsam hin und her schob. Da habe ich auch etwas nachgeholfen.«
»Pfui, Lisa, das finde ich gemein!«
»Es war doch nur ein Spaß.«
Frau Langen, die den Tumult im Zimmer hörte, kam schließlich und schlichtete den Streit. Auch sie wußte der Geistersitzung einen so humoristischen Anstrich zu geben, daß Lisa endlich freimütig gestand, daß sie sich den kleinen Spaß erlaubt habe. Nun gab auch Goldköpfchen zu, daß es durchaus den Teja haben wollte und tatsächlich geglaubt habe, man könne dadurch den Geist beeinflussen, hier zu erscheinen.
Bei einer guten Ananasbowle wurde der Frieden zwischen den jungen Mädchen wieder hergestellt. Schließlich tranken alle auf den Gotenkönig Teja und stellten die Gläser auf die Platte des verhexten Tisches.
Also war auch das kein Erlebnis geworden. Aufseufzend berichtete Bärbel dem Großchen, daß ihre Hoffnungen abermals fehlgeschlagen wären. Sie müsse sich wohl damit abfinden, ein Dasein des Alltags zu führen, ihr sei es nicht beschieden, auf den Höhen des Lebens zu wandeln.
»Sei glücklich und zufrieden, Bärbel, daß du eine so schöne Jugendzeit verlebst. Du hast deine Eltern, deine Geschwister, du darfst dir einen Lebensberuf nach deinem Ermessen wählen, hast satt zu essen und bist gesund. – Was willst du mehr?«
»Du hast ja recht, Großchen, mit dem Lebensberuf ist das freilich so ’ne Sache. – Wenn ich nur erst im klaren wäre, was ich einmal werden möchte.«
»Zum Überlegen bleibt dir noch lange Zeit, mein liebes Kind.«
»Ich denke, ich werde Arzt. Dann kommt das große Erleben. Wenn die Todkranken vor mir liegen, mache ich sie mit meinem Können wieder gesund. – Vielleicht werde ich aber auch ein berühmter Erfinder. – Lehrer werde ich ganz bestimmt nicht, Großchen, dieser Beruf gefällt mir nicht.«
»Wer so geschickte Hände hat, wie du, mein Goldköpfchen, dem steht die ganze Welt offen.«
»Du meinst, weil ich so gut sticken kann? Oder weil ich so nette Sträuße binde?«
»Weil du in allem so viel Geschmack entwickelst, Goldköpfchen. Was du dir auch vornimmst, immer sieht es reizend aus. Was für hübsche Dinge machst du aus buntem Papier, wie nett stattest du Körbchen und dergleichen aus, wie anmutig verstehst du einen Tisch zu schmücken.«
»Das ist ja alles ganz schön, Großchen, – wenn nur in meinem Leben das große Erlebnis wäre!«
»Das kommt mit den Jahren, mein geliebtes Goldköpfchen. Das läßt sich nicht gewaltsam herbeiziehen. Eine jeder Mensch hat sein Erleben, der eine früher, der andere später.«
Wieder reihte sich ein Tag an den anderen. Da wurde Goldköpfchen an einem Nachmittage von Großchen mit einem zerbrochenen Schmuckstück zu einem ziemlich weit entfernt wohnenden Goldschmied geschickt. Da Bärbel in Dresden bereits gut Bescheid wußte, wanderte sie, um den Weg abzukürzen, durch mehrere kleine Nebenstraßen und bog schließlich in die steil aufsteigende Friedrichstraße ein.
Es war ein heißer Junitag, Bärbel trug ein schlichtes Voilekleid, das nur durch einige Spitzeneinsätze verziert war.
Ihre Gedanken weilten wieder einmal daheim bei den Eltern. Dabei bekam das jugendfrische Antlitz einen so verträumten Ausdruck; Bärbel vergaß alles um sich her, und schon manchmal war sie in solchen Fällen mit eiligen Fußgängern zusammengestoßen.
Heute wurde sie durch laute Rufe aufgeschreckt. Sie hörte scheltende Stimmen; die großen Blauaugen glitten die Straße entlang.
Vor ihr quälte sich ein vollbeladener Kohlenwagen die steile Straße empor. Bärbel hörte klatschende Schläge einer Peitsche, lautes Fluchen, sie vernahm verschiedene Zurufe von Frauenlippen, und eiligst setzte sich das junge Mädchen in schnellere Gangart, um zu sehen, was es dort vorn gäbe.