Mit einem Seufzer dachte das junge Mädchen an die dadurch verlorene Zeit auf der Eisbahn. Sie würde emsig schreiben müssen, während sich andere auf dem Eise tummelten. Aber sie war nun einmal Mitglied des Klubs »Blaublümelein« und hatte Treue bis an den Rand des Grabes gelobt.
Am Abend forschte Frau Lindberg vorsichtig nach dem neu gegründeten Klub; aber energisch schüttelte Bärbel den Kopf.
»Großchen, ich bitte dich, bringe mich nicht in seelische Konflikte, ich muß schweigen, sonst … Nun, das kann ich dir nicht sagen.«
Schon zwei Tage später zeigten sich die schlimmen Folgen dieser Vereinsgründung. Bärbel besaß ein außerordentliches Talent im Zeichnen. Nur zu oft riß sie ein Blatt aus ihrem Hefte heraus, um darauf ein Bild zu skizzieren, das stets gut getroffen war. Ihr Übermut wagte sich sogar an die Lehrer. Sie lauschte geschickt eine komische Stellung ab, um dann den Betreffenden aufs Papier zu bringen.
So war auch heute der Ordinarius, Doktor Gerlach, ihrem Bleistift zum Opfer gefallen, als er für ein paar Sekunden den Finger nachdenklich an die Nase legte. Unter den Tischen reichte man sich das wohlgelungene Bild herum, und Herta Brodowin kritzelte rasch darunter: wenn ihn doch erst der Teufel an seiner langen Nase fortholte!
Beim Weitergeben in die nächste Bank flatterte das Blatt zu Boden; Doktor Gerlach sah es und verlangte die Herausgabe. Erst weigerte man sich, aber es kam schließlich in seine Hände.
Das Bild kränkte ihn nicht, das war viel zu gut getroffen und viel zu fröhlich gehalten, um ihn zu erbittern. Aber die ungezogenen Worte, die darunter standen, ärgerten ihn stark.
»Wer hat das gemacht?«
Sekundenlanges Schweigen.
»Ich wünsche sogleich eine Antwort.«
Bärbel erhob sich. »Ich habe das Bild gezeichnet.«
»Du?« Hinter den Brillengläsern funkelten die Augen des Ordinarius das junge Mädchen an.
»Schämst du dich nicht, eine solche Bemerkung darunterzuschreiben?«
Bärbel horchte auf. Von einer Unterschrift wußte sie nichts. Sie blickte sich daher fragend in der Klasse um und schaute in Hertas Augen. Im gleichen Augenblick wußte sie, daß jene irgend etwas daruntergeschrieben haben mußte, denn Herta war für derartige Flegeleien bekannt. Da sie stets in solchen Fällen sich der Druckschrift bediente, war es nur selten gelungen, sie als Missetäterin zu erwischen.
»Die Unterschrift …« stammelte Bärbel.
Herta neigte sich über die Bank, eine Stimme zischte an ihrem Ohr: »Elend und unglücklich soll derjenige bis an sein Lebensende sein, der eines der Mitglieder in der Not verrät.«
Bärbel wollte aufbrausen. Das ging zu weit! Sie verpetzte zwar niemals ihre Mitschülerinnen, aber es kränkte sie, daß man ihr derartige Ungezogenheiten zutraute. Soweit durfte der Eid nicht gehen, daß man sich hinter ihm verbarg, wenn man irgendwelche Frechheiten plante.
Aber Bärbel war sich nicht ganz sicher. Sie hatte nun einmal geschworen und mußte still sein. Gesenkten Hauptes ließ sie die entrüsteten Worte des Ordinarius über sich ergehen, der ihr sagte, daß er Bärbel beim Direktor melden werde.
Die Tränen stiegen dem jungen Mädchen in die Augen. Bärbel hatte sich fest vorgenommen, gerade im letzten Vierteljahr keinen Anlaß zu einer schlechten Note zu geben. Nun würde sicherlich solch ein Vermerk ihr Zeugnis zieren.
Niedergeschlagen setzte sie sich wieder hin; aber die Abneigung, die sie schon lange gegen Herta Brodowin im Herzen trug, wurde in dieser Stunde noch größer.
Nach Schluß des Unterrichtes stürzte sie sich auf die Mitschülerin.
»Du bist ein Feigling, Herta – soll ich für dich büßen?«
»Du schwurst den Eid.«
»Damit du Frechheiten begehen kannst?«
Herta zuckte die Schultern. »Du hast geschworen, das genügt.«
»Du hast auch geschworen«, entgegnete Bärbel erbittert, »einer für alle. Unser Klub hat es sich zur Aufgabe gemacht, ehrlich und anständig zu sein. Das steht in Paragraph 7.«
»Ist in diesem Falle nicht anwendbar. Ich war in Not, du mußtest mich heraushauen.«
So schwieg Bärbel denn auch, als sie vor dem strengen Direktor stand. Seine ernsten, aber immerhin noch gütigen Worte taten ihr sehr weh. Sie war zwar mehrmals in Versuchung, alles zu sagen, aber dieser schreckliche Eid durfte nicht gebrochen werden.
Als man sie entließ, trat Edith an sie heran.
»Tröste dich mit unserem Freund Heinrich Heine«, sagte sie, »er sagt so wundervoll: es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht, er fiel auf die zarten Blaublümelein.«
Bärbel wischte sich die Tränen aus den Augen.
»Ja, Edith, und den Vers werde ich über alle Statuten in die linke Ecke schreiben. Ich muß mich eben abfinden, ich habe ja geschworen.«
An diesem Tage kam Bärbel sehr niedergeschlagen heim. Frau Lindberg merkte sogleich, daß hier etwas nicht ganz in Ordnung war.
»Frage nicht, liebes Großchen, ich habe heute eine schlechte Note im Betragen erhalten. Ich habe unseren Ordinarius gezeichnet und – ach, ich muß ja schweigen. – Großchen, ein Eid ist etwas Furchtbares.«
Es war Frau Lindberg trotz größter Mühe ganz unmöglich, hier klar zu sehen. Sorgenvoll legte sich die alte Dame an diesem Abend zu Bett.
Um so glücklicher war sie, als tags darauf Bärbel mit hochroten Wangen heimkam und schon im Flur jubelnd nach Großchen rief.
»Wie süß, himmlisch, – Großchen, hast du nicht ein altes Bett?«
»Was ist denn los?«
Unter dem Mantel holte Bärbel eine Katze hervor.
»Ich habe sie gefunden, sie hat kein Elternhaus, sie war so furchtbar verhungert, da habe ich sie mitgenommen. – Höre doch, Großchen, wie sie weint. Wir werden sie aufnehmen, – ach, ich bin ja so glücklich, ein liebes Kätzchen zu haben!«
Nur widerstrebend fügte sich Frau Lindberg darein, die Katze in der Wohnung zu behalten, sie sah sofort, daß sich das Tier in wenigen Tagen vermehren würde. Sie beschloß, sogleich ein Inserat aufzugeben; als aber Bärbel erzählte, daß es die Katze ganz verhungert gefunden habe, wurde es Frau Lindberg klar, daß man sich des alten Tieres entledigen wollte.
»Wir können doch unmöglich mehrere Katzen in der Wohnung haben, Bärbel.«
»Es wäre einfach himmlisch, ich hätte doch dann einen Lebenszweck, Großchen, ich will für die Tierchen schon sorgen.«
Bärbel bereitete der Katze ein prächtiges Lager; Frau Lindberg mußte bremsen, damit das junge Mädchen nicht wertvolle Decken und Kissen zusammentrug.
Drei Tage später jubelte Bärbel über sechs kleine graue Kätzchen, die neben der Mutter in dem Körbchen lagen. Sie duldete es nicht, daß nur ein einziges der jungen Tierchen getötet wurde. Sie flehte die Großmutter an, und Frau Lindberg gab schließlich widerstrebend nach.
»Bedenke doch, Großchen, wie sich das lohnt. Wir können die kleinen Kätzchen später als Geschenke weitergeben. Das niedlichste nehme ich nach Hause mit. Oh, wie werden sich Kuno und Martin darüber freuen.«
So blieben die sieben Katzen im Hause der unglücklichen Großmutter. Bärbel sorgte geradezu rührend für die Tiere. Sie verzichtete sogar am Sonntag auf die Schlagsahne, legte das Geld in Milch an, die die alte Katze über die gewohnte Portion hinaus bekam.
Trotz dieser Freude, die Bärbel an ihren sieben Katzen hatte, lag doch seit kurzem ein