Diesmal hatte sie eine kleine Heimlichkeit vor der Großmutter. Sie zog die neuen Lackschuhe und das blaue Sonntagskleid an. Sie mußte schön sein, wenn sie die Liebe eines Mannes gewinnen wollte.
Da saß sie nun mit klopfendem Herzen neben dem Lehrer. Seine Schulter berührte die ihrige, sie ließ ein Zucken merken, als er mit seiner Hand ihre Rechte berührte, um ihr die richtige Fingerstellung zu zeigen. Dann ließ Bärbel die Laute sinken, ein lauter Seufzer kam aus ihrem Munde.
»Haben Sie Schmerzen?«
Bärbel wippte mit dem Lackschuh. Er sollte sehen, was sie für einen kleinen Fuß hatte.
»Ach«, sagte sie, auf den Schuh starrend.
»Sie haben wohl zu enge Schuhe an, Fräulein Wagner?«
»Dummkopf«, ging es ihr durch den Sinn.
»Nein«, erwiderte sie und drückte die Laute fest ans Herz. Dann schlug sie kokett die Augen zu ihm auf und fragte mit gänzlich verstellter Stimme: »Wollen wir fortfahren?«
Wieder begann der Unterricht, aber instinktiv merkte Bärbel, daß Herr Merkur heute recht unaufmerksam war. Hatte ihr Verhalten bereits Eindruck auf ihn gemacht?
Wenn wirklich die große Liebe zu ihm kam, oh, dann hatte sie ja ihr Erlebnis!
Sie schaute den Lehrer verstohlen an; seine Augen ruhten auf ihren goldblonden Haaren.
»Sie sehen mich ja so komisch an?«
»Entschuldigen Sie, – aber Ihr Haar ist so wundervoll.«
»Ach …«
»Ich liebe dieses goldblonde Haar.«
Das war der Anfang. So ähnlich hatte der Held in dem Roman auch gesprochen. Bärbel riß vor innerer Freude an den Saiten. Da fuhr Herr Merkur zusammen, strich sich mit der Rechten über die Stirn und verlangte, daß sie die Übung von vorn beginne.
»Goldköpfchen nennt man mich daheim.«
»Wie reizend!«
»Eigentlich heiße ich Barbara, aber wenn man nett zu mir ist, nennt man mich Bärbel.«
»Bärbel!« Ein Jubelruf kam über die Lippen des Lehrers, er krampfte die Hände zusammen, legte sie dann aufs Herz und flüsterte nochmals mit leiser Zärtlichkeit: »Bärbel!«
Goldköpfchen schloß die Augen. – Nun war es so weit. Nun würde er wohl gleich vor ihr niedersinken und ihren Namen noch einmal so süß hinhauchen, wie er es eben getan hatte. Ja, das war die Liebe, die große, echte Liebe!
»Verzeihen Sie, Fräulein Wagner«, sagte er plötzlich gefaßt, »aber …«
»Es macht nichts«, flüsterte Bärbel.
»Sie müssen nämlich wissen, ich …«
»Ich weiß alles«, sagte Bärbel stockend.
»Nein, Fräulein Wagner, noch niemand weiß es, denn wir haben uns erst gestern abend verlobt. – Sie heißt nämlich auch Bärbel und hat genau solch goldene Haare wie Sie.«
Eine Sekunde lang hatte das junge Mädchen, ein Gefühl, als stürze ihm kaltes Wasser über den Rücken. Dann griff Bärbel so temperamentvoll in die Saiten, daß zwei davon rissen.
Ein Märchen von Grimm fiel ihr ein.
»Es ist ein Band von meinem Herzen, das da lag in großen Schmerzen.«
»Darum bin ich auch heute ein wenig zerstreut, Fräulein Wagner. – Sie müssen entschuldigen. Aber daß Sie nun auch gerade Bärbel heißen.«
Das also war die große Liebe, das war das ersehnte Erlebnis. Wozu hatte sie denn die guten Schuhe angezogen und das Sonntagskleid? Er liebte eine andere.
»Wenn Sie nicht in Stimmung sind«, sagte Bärbel ziemlich mißmutig, »dann möchte ich heute – ich bin nämlich auch nicht in Stimmung. Ich komme lieber am Montag wieder.«
»Aber wir könnten deswegen doch …«
»Nein, nein«, sagte sie unwillig, indem sie sich den Hut auf die Locken drückte, »schwärmen Sie weiter von Ihrem Bärbel.«
Als sie unten im Hausflur stand, kam ihr der Gedanke, nun auch die Laute an der Eingangssäule zu zerschellen.
»Weh dir, verruchter Mörder, du Fluch des Lautentums, dahin ist all mein Hoffen!«
Nein, – wozu sollte sie die schöne Laute zerschlagen? Sie würde sich diese Liebe aus dem Herzen reißen und auch diese Enttäuschung überwinden. – Vielleicht kam doch noch einmal das große Erlebnis zu ihr.
Damit war der semmelblonde Merkur mit den Glotzaugen für Bärbel erledigt.
Auch in den nächsten Tagen gab es gar nichts zum Erleben. Ein Tag ging wie der andere dahin, und Bärbel klagte allabendlich dem Großchen, daß es noch immer nichts für die Unsterblichkeit getan habe. Jedesmal, wenn sie in die Zeitung schaute, wenn irgendein Name Erwähnung fand, tippte sie mit dem Finger darauf und sagte seufzend:
»Wenn ich doch auch einmal durch die Druckerschwärze ginge!«
Es war ihr ganz einerlei, ob der Name lobend oder tadelnd erwähnt wurde. Der Dieb, der vor den Schranken des Gerichtes stand, erregte ebenso ihr Interesse, wie der Direktor einer Bank, der sich unter eine Ankündigung schrieb.
»Ein Erlebnis zu haben, Großchen, und gedruckt zu werden, welch ein Glück!«
Da kam sie eines Tages mit glühenden Wangen heim.
»Großchen! – In mein Leben ist etwas Neues getreten, – ich werde sehend!«
»Was ist denn schon wieder los, Goldköpfchen?«
»Gabriele hat mich doch zu heute nachmittag eingeladen. Dort gibt es eine spiritistische Sitzung. Gabriele meint, wir können einen Tisch tanzen lassen, und wenn einer in Trance wäre, könnten wir sogar Geister klopfen hören.«
»Fangt ihr auch mit dem Unsinn an, Kinder?«
»Ich habe schon von Hellsehern gelesen, Großchen, und gerade jetzt sagt man, daß das Verbrechen in Pirna durch einen Hellseher aufgeklärt werden soll. – Oh, ich weiß schon, wie wir uns die Geister dienstbar machen. Ich habe dir doch erzählt, daß jetzt so viele in der Schule anonyme Briefe kriegen. – Gabriele meint, wir werden den Geist fragen, wer sie schreibt.«
»Nun, ich denke, die Geister werden sich gar nicht erst zu euch bemühen«, scherzte Frau Lindberg. Sie war in der jetzt folgenden Unterredung eifrig bemüht, die bevorstehende Sitzung des Mystischen zu entkleiden.
Aber für Bärbel war doch diese geplante spiritistische Versammlung etwas ganz Neues. Als man sich bei Gabriele Langen zum Kaffee einfand, schlangen alle anwesenden jungen Mädchen den Kuchen mit denkbar größter Eile herunter, weil man gar nicht schnell genug die Geister herbeizitieren konnte.
Endlich war es so weit. Man ging ins Nebenzimmer, ließ die Rolläden vor die Fenster und zündete nur eine einzige Kerze an.
»Es ist auch ohne Kerze noch hell genug«, meinte Gabriele, »die Sonne läßt sich nicht ganz aussperren. Aber ich denke, wir sind alle so andachtsvoll gestimmt, daß die Geister kommen werden.«
Sie gab darauf die Erklärungen: die Geister klopften, der Tisch würde tanzen, vielleicht sogar bis zur Decke hinauffliegen.
Voller Erwartung saßen die zehn jungen Mädchen um den kleinen Tisch, legten die Hände gespreizt an den Rand der runden Platte, das Schweigen begann.
Bärbel brannte vor Aufregung. Wenn wirklich ein Geist erschien, hatte sie ihr großes Erlebnis. An diesem Geist wollte sie die nächsten Jahre zehren. Wer würde wohl erscheinen? Ach, daß sie sich einen ihrer Freunde aussuchen dürfte!
Man saß und saß, – keines der jungen Mädchen