»Willst du mir nicht antworten, Bärbel?«
»Entschuldigen Sie, Herr Doktor, ich habe die Frage nicht gehört.«
»Du bist heute sehr zerstreut«, tönte es streng und grollend vom Katheder herunter, »ich wiederhole: die Not der eingeschlossenen Römer war aufs äußerste gestiegen, die Lebensmittel wurden immer knapper – fahre fort, Bärbel.«
Die Lippen des jungen Mädchens begannen zu zittern. Der einzige Satz aus dem grauen Altertum genügte, um Bärbels Fassung erneut zusammenbrechen zu lassen. Not, überall Not, wohin man hörte.
Statt einer Antwort warf Bärbel die Arme auf die Tischplatte und begann so jammervoll zu weinen, daß Doktor Hering erschreckt aufsprang und sich hastig dem jungen Mädchen näherte.
»Bärbel, – warum weinst du?«
»Über die Not, die furchtbare Not!«
Doktor Hering war einen Augenblick starr. Er, der den jungen Mädchen gegenüber so unsicher war, wußte in diesem Augenblick nicht, was er mit diesem Ausruf anfangen sollte. Es war doch undenkbar, daß eine Fünfzehnjährige über die Not, die vor mehr als einem Jahrtausend in Rom geherrscht hatte, so bitterlich weinte. War das eine gutgespielte Komödie?
Nein. – Er sah den zuckenden und bebenden Körper, hörte das leidenschaftliche Weinen, wurde aber nicht klug daraus.
Einige Mitschülerinnen begannen leise zu lachen, dann sprang ganz plötzlich ein lautes Gelächter auf, das schnitt Bärbel noch tiefer ins Herz. Man lachte, während eine unglückliche Frau mit ihren drei Kindern tot davongefahren wurde.
Sie hielt sich beide Ohren zu, sie konnte nicht sprechen, sie hätte nur immer schreien mögen vor innerer Qual. Wenn sie die Augen schloß, sah sie immer wieder das grauenvolle Bild.
Doktor Hering war ratlos. – Er strich zaghaft Bärbel mehrfach über das goldblonde Haar und sagte unsicher: »Beruhige dich …«
Aber die anderen lachten und lachten. Da sprang Bärbel plötzlich auf, lief zur Tür hinaus und verbarg sich hinter einem der dicken Pfeiler. Sie legte den heißen Kopf an die kalten Steine, und erst nach Minuten wurde sie ganz allmählich ein wenig ruhiger.
In der Pause wurde Bärbel abermals zum Direktor gerufen.
»Ich weiß nicht, Bärbel, was es in letzter Zeit mit dir für eine Bewandtnis hat. Herr Doktor Hering meldet mir heute dein eigenartiges Verhalten. Ich sehe dich verweint, schütte mir dein Herz aus, mein Kind.«
Da endlich vermochte das junge Mädchen das beschwerte Herz zu erleichtern. Aufs neue strömten ihm die Tränen aus den Augen, und gerührt faßte der Direktor nach ihren beiden Händen.
»Du wirst im Leben noch manches Traurige erfahren, Bärbel. Ich kann es wohl verstehen, daß dich die heutige Katastrophe aus den Fugen riß. Du kennst die Not und den Jammer der Großstadt noch nicht, mein liebes Kind, behalte dir dein warmes Herz; und wenn du später Gelegenheit hast, Not zu lindern, so denke an diese Stunde zurück.«
Nach diesen freundlichen Worten wurde Goldköpfchen etwas ruhiger. Sie vermochte es sogar, einige der Mitschülerinnen von dem Erlebten zu unterrichten. Da verstummte allgemein der Übermut, denn das traurige Vorkommnis senkte sich wie ein Schatten auf die Mädchenklasse.
Nur Herta Brodowin deklamierte mit Pathos: »Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht, er fiel auf die zarten Blaublümelein.«
Auch Großmama Lindberg hatte den Eindruck, daß ein Reif auf ihr Goldköpfchen gefallen sei. Bärbel konnte sich gar nicht damit abfinden, daß ein Unglück in nächster Nähe geschehen war, und daß man nicht geholfen hatte. Bei jeder Mahlzeit hatte sie das Gefühl, als dürfte sie die Speisen nicht essen; und ganz schüchtern bat sie Großchen, doch in Zukunft ganz einfach zu kochen, es könnte dann vielleicht noch jemand mitessen, der hungernd durch die Straßen wandere.
Als wieder der Freitag kam und Bärbel sich rüstete, um in der Konditorei die erneute Zusammenkunft des Klubs »Blaublümelein« zu besuchen, war ihr Herz schwer. Sechzehn junge Mädchen aßen Kuchen und tranken Kaffee. – War das nötig? Und nun wollte Herta sogar noch zwei Mark haben, damit sie von dem Gelde Vereinsbriefbogen drucken lassen konnte. – Wozu das alles? Wenn die tote Frau diese zweiunddreißig Mark gehabt hätte, der verzweifelte Schritt wäre nicht geschehen.
Bärbel besaß gerade noch zwei Mark Taschengeld. Es wurmte sie ein wenig, daß sie diese Summe an Herta geben sollte. Aber sie war ja dazu verpflichtet.
An dem Platze, den sie überschreiten mußte, stand ein altes Weiblein. Der Rücken war gebeugt, das gelbe Gesicht, das wie Pergamentpapier ausschaute, mit Runzeln überzogen. Bisher hatte sich Bärbel alte Leute niemals genauer angesehen. Aber jetzt verlangsamte sie ihren Schritt, um das hagere Mütterchen zu betrachten. Wie mager ihre Hände waren! Ob die Frau wohl heute schon ein warmes Essen gehabt hatte?
Die Alte hob die Augen, traurige, hoffnungslose Augen, in denen es wohl nicht mehr froh aufleuchten konnte.
Und Bärbel sah in Gedanken wieder die Bahre und hörte die Worte der Umstehenden an der Unglücksstätte.
Sie griff in ihr Täschchen, nahm die zwei Mark, die für Herta bestimmt waren, und drückte sie in die Hand der frierenden Alten.
»Mit Schimpf und Schande schmeißen sie mich jetzt raus aus dem Klub, – kein Glück werde ich mehr im Leben haben. – Aber ich konnte nicht anders.«
Nochmals wandte sie sich um. Da stand das Mütterchen, hielt die geöffnete Hand noch immer vor sich hin, starrte auf das Geldstück; und schließlich brach doch aus den müden Augen ein Schimmer des Glücks.
»Ich brauche den Klub nicht«, sagte Bärbel zitternd vor Freude, »ich schaffe mir mein Glück allein, – ich gehe nicht mehr hin, ich trete aus!«
Einer Siegerin gleich betrat sie die Konditorei, in der schon alle jungen Mädchen versammelt waren.
Herta Brodowin eröffnete die Sitzung und forderte die Zahlung der zwei Mark.
Hastig erhob sich Bärbel.
»Ich zahle nicht«, sagte sie energisch, »das ist ja alles Dummheit, der ganze Klub ist Quatsch! Da haben wir so alberne Heimlichkeiten, müssen die Gemeinheiten unserer Vorsitzenden ausfressen, vertrödeln das gute Geld und könnten damit andere glücklich machen.«
»Du bist wohl übergeschnappt, Bärbel, – ich entziehe dir das Wort!«
»Du hast mir nichts mehr zu sagen, Herta, ich trete aus, ich habe meine zwei Mark einer alten, hungernden Frau gegeben, Kinder, wie war sie froh! – Wozu brauchst du das Geld, Herta? Ich trete aus; beschimpft mich, soviel ihr wollt, ich mache den Unsinn nicht mehr mit.«
Beifälliges Gemurmel entstand; Edith war die erste, die Bärbel beipflichtete.
»Ich finde es schrecklich, immerzu Geheimnisse zu haben.«
»Und ich will nicht noch einen zweiten Tadel deinetwegen bekommen«, rief Gabriele.
Es dauerte nur zehn Minuten, da sah sich die Vorsitzende des Klubs »Blaublümelein« verlassen. Sämtliche Mitglieder erklärten, daß sie kein Interesse mehr an dem Klub hätten, und daß er mit dem heutigen Tage statutenmäßig aufgelöst sei.
»Ich geb’ dir meine zwei Mark«, sagte Edith leise zu Bärbel, »dann kannst du wieder eine alte Frau glücklich machen.«
»Tue es doch selbst«, flüsterte Bärbel verklärt, »dann erst fühlt man, wie glücklich man ist, wenn man helfen kann.«
Viel früher als sonst ging man heute auseinander. Frau Lindberg war sehr erstaunt, Bärbel so zeitig wieder heimkommen zu sehen.
»Großchen«, sagte Goldköpfchen, indem es beide Arme fest um die alte Dame schlang, »nun ist der Wall niedergerissen, nun schenken wir uns auch wieder volles Vertrauen. Das Siegel meiner Lippen habe ich zerstört. Ich bin kein