Die entrüsteten Umstehenden wurden von dem Rohling mit wüsten Schimpfworten bedacht, und als der Braune zum zweiten Male vorn in die Knie brach, versetzte der Kutscher dem Tiere mit dem Stiel der Peitsche einen schweren Schlag gegen die Weichen.
Bärbel sah das abscheuliche Schauspiel, und die Empörung wallte in ihr auf. Ihr Temperament riß sie hin. Mit wenigen raschen Sprüngen war sie mitten auf dem Damm, holte mit der Rechten weit aus und versetzte dem Kutscher eine schallende Ohrfeige.
»Tierschinder!«
Die Mütze flog dem Manne vom Kopfe, die Peitsche entfiel seiner Hand, aber im nächsten Augenblick hatte der rohe Bursche Bärbel vorn an der Brust gefaßt. Er schüttelte sie so stark hin und her, daß es dem jungen Mädchen schwarz vor den Augen wurde. Es besaß aber noch so viel Geistesgegenwart, um die kleine lederne Handtasche, die es trug, dem Kutscher ins Gesicht zu schlagen. Dann fühlte sich Goldköpfchen fortgerissen, sie sah sich von Menschen umringt; und als sie verstört wieder zu sich kam, stand vor ihr ein Polizeibeamter. Bärbel wurde von den Armen einer Dame gehalten, aus denen sie sich rasch löste und verlegen stotterte:
»Danke, danke, mir ist nichts.«
Als sie aber an sich heruntersah, stellte sie errötend fest, daß der schmale Spitzeneinsatz auf der Schulter zerrissen war, der Ärmel des Kleides hing weit herab.
Sie raffte ihn hoch und schaute sich nach dem Pferde um, das jetzt wieder auf den Füßen stand. Sie sah auch den Kutscher, erblickte sein hochrotes Gesicht und hörte die lauten Beschimpfungen, die auf ihn herabhagelten.
Dann mußte Bärbel ihren Namen nennen. Sie wollte es anfangs nicht, und nur zögernd kam die Adresse von ihren Lippen.
»So ein tapferes junges Mädchen«, sagte eine der Umstehenden.
»Das war die einzige Strafe für diesen Rohling«, rief eine andere, »die Ohrfeige saß!«
»Das hat mir an Ihnen gefallen!«
Bärbels Hände wurden gedrückt; immer mehr Menschen strömten herbei. Sie war plötzlich der Mittelpunkt des Interesses. Einer erzählte es dem anderen, mit welcher Energie dieses junge Mädchen eingegriffen habe, und immer neue Menschen traten heran, um Bärbel anerkennende Worte zu sagen.
Goldköpfchen wurde immer scheuer und gedrückter. Am liebsten wäre sie jetzt in die Erde gesunken. Wie hatte sie nur so temperamentvoll handeln können!
»Bravo, bravo, kleines Fräulein«, sagte ein alter, weißhaariger Herr und tätschelte Goldköpfchens Hand. »Wenn alle Menschen so mutig vorgehen würden, hätte die Tierquälerei bald ihr Ende gefunden.«
»Ein prächtiges Mädchen!«
Bärbel zitterte vor Aufregung. Wollten denn diese Lobreden gar nicht enden? Sie hatte einem Kutscher eine Ohrfeige gegeben, stand hier mit zerrissenem Kleide und konnte aus dem sie eng umschließenden Kreise nicht heraus.
»Ach, lassen Sie mich doch fort«, sagte sie endlich verängstigt.
Eine Frau reichte dem jungen Mädchen eine Sicherheitsnadel, damit wurde der ausgerissene Ärmel festgesteckt.
»Ich besorge einen Wagen, mein Fräulein«, sagte der weißhaarige Herr, »so können Sie doch nicht heimgehen.«
Jetzt erst bemerkte Bärbel, daß sich beim Schlagen ihre Handtasche geöffnet hatte und leer war.
»Meine Sachen!« rief sie erschreckt.
Die Umstehenden beteiligten sich am Suchen. Bärbel wurde immer verlegener, denn in der Handtasche steckte das Bild von Gerhard Wiese, ein nicht gerade sauber zu nennendes Taschentuch, eine zerbrochene Zigarette und ein Taschenspiegel mit Sprung, außerdem befanden sich einige Bonbons dazwischen. Als man ihr alle diese Sachen zurückgab, schämte sie sich sehr, und wieder hatte sie den heißen Wunsch, ein Tarnkappe zu besitzen, um zu entschwinden.
Endlich kam die Droschke.
»Nein«, sagte Bärbel, »man soll das Pferd doch lieber nehmen und mit vor den Kohlenwagen spannen, sonst quält der Kutscher das arme Tier noch weiter den Berg hinan.«
»Seien Sie ohne Sorge«, sagte der Polizeibeamte, »dafür ist bereits gesorgt. Sie dürfen ruhig heimfahren. Der rohe Kutscher erhält einen gehörigen Denkzettel, und ein zweites Pferd wird gleich zur Stelle sein.«
»Passen Sie auch gut auf, daß er das arme Tier nun aus Wut nicht noch mehr schlägt?«
»Dafür werde ich schon sorgen.«
Bärbel war beruhigt. Als sie in den Wagen stieg, rief ein größerer Knabe begeistert: »Hoch soll sie leben!«
Bärbel erzitterte. Das war ihr noch nie passiert. Man hatte sie mitten auf der Straße in der großen Stadt Dresden hochleben lassen. Fremde hatten ihr die Hand gedrückt, ein alter Herr einen Wagen besorgt.
Als sich Bärbel in die Polster des Wagens lehnte, zog sie bald das rechte, bald das linke Bein vor Erregung hoch, in ihren Ohren tönte noch immer der Beifall der Menge, das Herz klopfte in stürmischen Schlägen.
Frau Lindberg wurde anfänglich aus dem Bericht der Enkelin nicht klug, denn alles sprudelte durcheinander: das Hochleben, der weiße Herr, die Ohrfeige, der zerbrochene Spiegel. Nur ganz allmählich kam auf Befragen der Großmama ein wenig Ordnung in den Bericht.
Gegen Abend machte sich Frau Lindberg zu einem Ausgang fertig. Eine Viertelstunde später saß sie in der Redaktion des Anzeigers.
»Wir kennen uns ja seit unserer Kindheit, mein lieber Herr Dressel. Nicht wahr, Sie tun mir den Gefallen?«
»Noch heute, gnädige Frau! Warum soll man einem so tapferen jungen Mädchen eine solche Freude nicht machen?«
»Nehmen Sie vielen Dank!«
Dann kam der nächste Tag.
Es war ein merkwürdiger Zufall gewesen, daß eine Schülerin der unteren Klassen des Gymnasiums den Vorfall mit angesehen und sogleich darüber berichtet hatte. In der großen Pause wußte es bereits die ganze Klasse, daß Bärbel gestern nachmittag einem Pferde das Leben gerettet hatte. Sie wehrte verlegen ab, erzählte aber doch mit hell leuchtenden Augen von der Huldigung, die man ihr gebracht hätte.
Nach der Pause geschah etwas ganz Wunderbares. Mit dem Ordinarius erschien der Direktor in der Klasse.
»Barbara Wagner!«
Hastig überlegte Bärbel, was sie wohl schon wieder verbrochen haben könnte: und nur zögernd folgte sie dem Befehl, sich vorn ans Katheder zu stellen.
Dann sank der blonde Kopf immer tiefer, das rosige Antlitz wurde dunkelrot. Der Direktor berichtete von dem tapferen Vorgehen Bärbels und sprach ihr vor der ganzen Klasse seine volle Anerkennung aus. Er ermahnte die anderen Schülerinnen, jede Tierquälerei nach Kräften zu verhindern und sich an Bärbel ein Beispiel zu nehmen.
Damit war Bärbel die Hauptperson der ganzen Schule geworden. Alles drängte sich an sie heran, jeder lobte sie, und Bärbel wurde immer verlegener und kleinlauter. Wohl fühlte sie sich stolz und glücklich, aber es bedrückte sie doch, daß man so viel Aufhebens von ihr machte.
Sie war froh, als sie endlich im Sturmschritt nach Hause eilen konnte.
»Fräulein Bärbel, im Salon wartet ein Herr«, sagte das Hausmädchen.
»Auf mich?«
»Ja, die gnädige Frau ist auch im Salon. Sie sollen gleich hineingehen.«
Zögernd, mit kleinen Schritten, betrat das junge Mädchen das Zimmer. Ein Herr von etwa vierzig Jahren erhob sich. Er trug ein Päckchen in der Hand, auf dem drei rote Rosen lagen.
»Der Besuch gilt dir, liebes Bärbel«, sagte die Großmama. »Hier siehst du Herrn Müller von der Kohlenfirma Groß & Co., der dir den Dank der Firma überbringt.«