Die Eltern hatten ihrem Goldköpfchen als Belohnung einen lange gehegten Wunsch erfüllt und ihr eine Laute geschenkt. Es war vorgesehen worden, daß Bärbel in Dresden in einem kleinen Konservatorium Unterricht nehmen sollte. Fürs Klavierspielen hatte sie wenig Neigung; ihre Stimme war klein, aber niedlich, und so hielten es Wagners für das beste, sie im Lautenspiel ausbilden zu lassen.
Die Osterferien waren sehr vergnügt verlaufen, obwohl diesmal weder Bruder Joachim noch Harald Wendelin in Dillstadt weilten. Beide Studenten steckten mitten in den Examenarbeiten und hatten viel zu tun.
So war Bärbel als Untersekundanerin nach Dresden in das Haus ihrer Großmutter zurückgekehrt und kam sich beinahe schon als erwachsene Dame vor. Fast alle ihrer Mitschülerinnen waren gleich ihr versetzt worden, nur zwei waren in der Tertia kleben geblieben, unter ihnen Herta Brodowin.
Das war für die Untersekundanerinnen eine große Freude. Mit Herta ließ sich keine gute Freundschaft halten, seitdem der Klub »Blaublümelein« aufgeflogen war.
Sogar den Ordinarius, Doktor Gerlach, behielt man. Bärbel hatte zwar gehofft, daß man den schönen, schwarzlockigen Studienrat Adams bekommen würde, aber schließlich war es gut, daß man Doktor Gerlach hatte, denn man war an ihn gewöhnt.
Für die Geschichtsstunde behielt die Untersekunda Doktor Rollmops, der noch immer seinen bellenden Ton anschlug, wenn er mit den Schülerinnen redete. Bärbel hatte dafür gesorgt, daß man ihm das Leben nicht gar zu schwer machte, und wenn sich wirklich der kecke Übermut an ihn heranwagte, war es immer wieder Goldköpfchen, das schlichtend eingriff.
Das blieb natürlich von Doktor Hering nicht unbemerkt, und er empfand für das frische, blondlockige Mädchen eine herzliche Zuneigung, die er aber unter ganz besonders rauhen Worten verbarg. Trotzdem ahnte Bärbel, daß sich zwischen ihr und dem Rollmops festere Fäden gesponnen hatten. Als er eines Tages wieder einmal mit seiner hartklingenden Stimme Bärbel bei aufforderte, etwas zu erzählen, sagte Goldköpfchen trocken:
»Warum brüllen Sie denn gerade mich immer so an, Herr Doktor?«
»Tue ich das?« fragte er kurz.
»Ja.«
Da bemerkte sie, daß er, von den Ohren her, rot wurde, daß diese Röte sich schließlich über das ganze Gesicht verbreitete, daß er das Lehrbuch bis an die Nase hob und schließlich hervorstieß:
»Netz dich sieder!«
Er verbesserte sich sofort.
»Setz dich nieder!«
Aber für Bärbel war dieses Versprechen der Anlaß zu einem lauten Auflachen.
»Netz dich«, rief hinter ihr halblaut eine der Mitschülerinnen.
Schon wieder tat Goldköpfchen der junge Studienrat leid. Energisch biß sie sich auf die Lippen, aber es dauerte doch eine ganze Weile, ehe sie sich innerlich wieder beruhigt hatte. Seit jenem Tage hatte die ganze Untersekunda ihren Spaß daran, Herrn Doktor Rollmops zu fragen: »Darf ich mich jetzt netzen, Herr Doktor?«
Aber auch Bärbel wurde von Neckereien nicht verschont. Es stand für die Schülerinnen der Untersekunda fest, daß Doktor Rollmops für Bärbel Wagner schwärme.
»Wenn sich ein Mann im Anblick einer jungen Dame mit der Zunge verheddert, so ist das der unumstößliche Beweis, daß er in sie verliebt ist«, erklärte Edith. »Ich habe so etwas bei Nietzsche oder einem anderen Philosophen gelesen.«
Bärbel wies diese Zumutung energisch zurück. Sie interessierte sich gar nicht für Doktor Rollmops, und es blieb ihr schließlich nichts anderes übrig, als ihr Herzensgeheimnis preiszugeben, um endlich vor den Neckereien Ruhe zu haben.
»Wie kann ich an einen Mann denken, wenn ich das Bild eines anderen im Herzen trage?«
Man bestürmte sie, sie solle beichten. Da kam es heraus.
Seit vierzehn Tagen besuchte Bärbel ein kleines, bescheidenes Konservatorium. Ein ganz junger Lehrer erteilte ihr Lautenunterricht. Dieser junge Mann, der, wie Bärbel sagte, Apfelblüten als Bäckchen hatte, dessen Haare wie frische Semmeln aussahen, trug den romantischen Namen Merkur. Schon am ersten Tage hatte sich Bärbel in den Lautenlehrer bis über beide Ohren verliebt.
»Er ist geradeswegs vom Olymp herabgestiegen«, schwärmte sie der Großmutter vor, »wenn er eine Lyra in den Händen hätte, wäre das Götterbild fertig.«
Von diesem Merkur berichtete Goldköpfchen jetzt ganz ausführlich, um den schrecklichen Verdacht loszuwerden, daß sie in Doktor Rollmops verliebt sei.
Eben in diese Tage fiel die Erstaufführung einer Operette, die so einschlug, daß man in ganz Dresden von dem jungen Komponisten sprach. Der Name dieses Mannes, der über Nacht berühmt geworden war, tönte in aller Munde.
Auch die Untersekunda unterhielt sich von dem berühmt Gewordenen, und Bärbel stieß den Seufzer aus: »Ach, wie herrlich muß es sein, wenn die ganze Welt von einem spricht, wenn man eine Berühmtheit ist!«
»Ja«, pflichtete ihr Edith bei, »man dusselt so ins Leben hinein. Man müßte von sich reden machen, man müßte etwas erleben.«
»Zweiundzwanzig Jahre, und noch nichts für die Unsterblichkeit getan«, deklamierte Bärbel. »Wie können wir unsere kostbare Jugendzeit so verdusseln! Don Carlos sehnte sich auch nach einem Erlebnis. – Ach, Kinder, wenn man doch einmal so ein richtiges, den Menschen aufwühlendes Erlebnis hätte. Dann bildet sich der Charakter. Aber wir sitzen morgens in der Schulstube, und nachmittags geschieht auch nichts.«
»Ach ja, ein Erlebnis müßten wir haben«, klang es im Chore. »Etwa so, wie es Lukrezia hatte, als sie dem Bruder den Giftbecher reichte, oder Elsa, der der Lohengrin erschien.«
»Wenn wenigstens eine gewaltige Liebe über einen käme«, meinte Edith, »die einen himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt macht. Aber mit den dummen Jungen vom Kant-Gymnasium ist ja nichts los.«
Bärbel schloß die Augen. Eine himmelstürmende Liebe, so etwas Aufwühlendes, so etwas, wo sie in einem Atem lachen und weinen mußte. Sie hatte manches Buch gelesen. Oh, was litten darin die jungen Mädchen, bis sie sich endlich den Herzallerliebsten errungen hatten!
Ja, wenn etwas Derartiges in ihr Leben träte, wie wunderschön mußte das sein!
Frau Lindberg betrachtete ihre Enkelin kopfschüttelnd, als sie hörte, daß Bärbel über die Langeweile des Daseins klagte.
»Ist das gelebt, Großchen? Ereignet sich etwas, das den Charakter umschweißt und ihn dann herauskristallisiert? Wie kann ich überhaupt ein Charakter werden, wenn mir gar nichts geschieht?«
»Aber mein geliebtes Bärbel, was soll denn geschehen?«
»Ich möchte etwas erleben«, rief Bärbel mit ausgebreiteten Armen, »etwas Großes, Pompöses, – meinetwegen auch etwas Schauriges. Die Leute sollen hinter mir dreinstaunen. – Ach, Großchen, warum bin ich kein Dichter!«
»Man lebt viel ruhiger in bescheidener Zurückgezogenheit, Bärbel.«
Goldköpfchen schüttelte so heftig den Kopf, daß die Locken um ihr Haupt flogen.
»Ich sehne mich nach einem Erlebnis! Ach, Großchen, wie fange ich das nur an?«
Frau Lindberg mußte über diesen sehnsüchtigen Wunsch lächeln. Sie kannte die Sturm- und Drangperiode der Jungmädchenjahre, aber sie maß diesem Sehnen weiter keine Bedeutung bei.
Da Bärbel einsah, daß sie weder als Komponistin, noch als Dichterin, am allerwenigsten aber als Schauspielerin ihr Erlebnis haben würde, beschloß sie, sich zunächst auf die Liebe zu werfen. Es war ja einer da, für den sich ihr Herz entzündet hatte: der apfelbäckige Merkur. Sie hatte jetzt