Acht Tage Ferien waren der anderen zugebilligt worden, die von morgens acht Uhr bis abends acht Uhr als Verkäuferin in Berlin tätig war und die dann abends noch zu einem Herrn ging, um ihm Schreibarbeiten zu machen.
»Ich bin zum ersten Male an der See. Seit zwei Jahren freue ich mich auf meine Ferien. Ich habe daheim eine Mutter und noch vier Geschwister zu ernähren. Diese hundert Mark sind alles, was ich in langen Monaten gespart habe. Ich muß davon auch noch etwas wieder heimbringen. Ach, wie bin ich glücklich, daß ich hier sein darf.«
»Acht Tage?« fragte Bärbel kleinlaut.
»Ist das nicht eine schöne Zeit? Denken Sie doch, acht ganze Tage Ferien! Einmal ausruhen zu dürfen, frische Luft zu atmen. – In Berlin schaue ich in einen kleinen Hof hinab, kein grünes Blatt ist zu sehen, kein Vogelgezwitscher zu hören. Ach, es ist ja so wunderbar schön hier!«
»Gehen Sie auch tanzen?«
»Nein, – ich genieße die See, die wundervolle blaue See! Kann es denn überhaupt noch etwas Schöneres geben, als diese Pracht zu sehen? Und die bewaldeten Höhen, ich kann mich nicht satt daran schauen.«
Bärbel wurde immer stiller. Sie war mit vier Wochen Ferien nicht zufrieden, sie wollte Vergnügen aller Art haben; und neben ihr saß auch ein junges Mädchen, dem strahlte das Glück aus den Augen, acht Tage lang Ferien zu haben und Berge und See zu schauen.
Dann kam der stürmische Dank, daß Bärbel die Tasche zurückgegeben hatte.
»Ich bin Ihnen doch einen Finderlohn schuldig. Darf ich Ihnen diesen Schein geben? Werden Sie es mir übelnehmen?«
Bärbel sprang auf. »Was denken Sie denn!« Das junge Mädchen erschien ihr plötzlich so unnahbar, darum sagte sie zögernd: »Gnädiges Fräulein, ich denke gar nicht daran, wie käme ich dazu, etwas anzunehmen. – Erfreuen Sie sich weiter. Also, – viel Vergnügen, gnädiges Fräulein.«
Bärbel eilte davon. Auch jetzt wieder hatte sie das Gefühl, als nähme ihr ein Stein, der schwer auf dem jungen Herzen lag, den Atem fort.
Erst am Strande wurde ihr wieder leichter. Sie schaute lange auf die weite, blaue See hinaus, dann blickte sie rückwärts zu den bewaldeten Höhen. Goldköpfchen hatte plötzlich das Empfinden, als sei See und Wald noch nie so wunderschön gewesen wie heute.
»Vier Wochen Ferien«, sagte sie laut vor sich hin, »oh, das sind viermal acht Tage. Das ist doch eine sehr lange Zeit! Ja, man kann doch glücklich sein, wenn man vier Wochen Ferien hat.«
Das junge Mädchen ging Goldköpfchen nicht mehr aus dem Kopfe. Von früh acht Uhr bis abends acht Uhr mußte es arbeiten, und Bärbel klagte schon über die kurzen Schulstunden. – Auch Harald Wendelin mußte arbeiten, und doch schrieb er so beglückt, daß ihm sein Beruf große Freude mache.
Sein Beruf! – Ja, einen Beruf mußte der Mensch wohl haben. Wie interessant verstand Fräulein Römer aus dem Strandkorb von nebenan zu erzählen, die eine Frauenschule besuchte und sich zur Säuglingsschwester ausbilden ließ. Dann hatte Bärbel zwei andere Damen belauscht, die in der Armenpflege tätig waren und auch so viel Interessantes zu berichten wußten.
Ja, einen Beruf mußte man wohl haben. Mit dem Heiraten würde es vielleicht nichts werden. Gerhard Wiese war zu Ostern sitzengeblieben, und die Eltern wollten ihn, wenn er nicht fleißiger wurde, von der Schule nehmen und in die Lehre geben. Er kam also als künftiger Ehemann für Bärbel kaum in Betracht.
Es war überhaupt so eine Sache mit den Männern. Wenn man einmal einen traf, der einem gleich beim ersten Anschauen das Blut zum Rasen brachte, war es bestimmt einer, der nur auf Betrug ausging und aus dem Elternhause eine wertvolle Bronze mitnahm.
»Wenn er gleich in richtige Elternhände gekommen wäre«, murmelte Goldköpfchen, »wäre gewiß aus ihm etwas Rechtes geworden. Er hatte eine so edle Nase. Aber er ist in den Strom der Welt hineingerissen worden und wird heute als Hochstapler gesucht. – Gräßlich!«
Den Gedanken, Ärztin zu werden, hatte sie schon lange aufgegeben. Immerfort an den Menschen herumzuschneiden, mißfiel ihr; und für eine Lehrerin hatte sie schon gar nichts übrig. Aber Jura studieren, das war vielleicht schon eher etwas. Wenn sie dann in der schwarzen Kutte vor den Verbrechern stehen würde, – oh, wie wollte sie diese Schurken verfluchen! Und wenn dann Wilhelm Wolf eingeliefert wurde, – na, der sollte gründlich ihre Meinung zu hören bekommen.
Man hatte ihr gesagt, daß das Studium sehr schwierig und langwierig sei. Nein, das war wohl auch nicht das Richtige. So lange konnte sie doch unmöglich den Eltern auf der Tasche liegen.
Aber es war wirklich Zeit, an einen Beruf zu denken. Was mochten wohl alle die Menschen, die hier so fröhlich im Seebade weilten, für Berufe haben?
Die Berufsfrage ging Goldköpfchen nicht mehr aus dem Sinn; selbst dann nicht, als sie, den Bademantel unter dem Arm, langsam ihrer Wohnung zuschlenderte. Aufmerksam studierte sie die Schilder an den Häusern.
»Bäckermeister? – Vielleicht Konditorin? Oh, das wäre nicht schlecht. Ich würde viele Windbeutel backen und sie an meine Freundinnen zum halben Preise abgeben. Aber – dazu muß man täglich früh um fünf Uhr aufstehen.«
Dann kam sie vorüber an einer Klempnerei, bei einem Schuhmacher, dem Pumpenbauer; aber immer wieder schüttelte das goldhaarige junge Mädchen den Kopf.
»Handwerk hat goldenen Boden«, sagte sie laut vor sich hin, »ein tüchtiger Handwerker ist etwas sehr Schönes. Großchen meint immer, meine Hände seien das Beste an mir. Ich wäre sehr geschickt. Ach – was könnte ich wohl werden?«
Bei diesem Stoßseufzer war die Wohnung erreicht. Vor der Ladentür stand Herr Zapp und grüßte freundlich.
Durch die geöffnete Tür warf Bärbel einen Blick in den Laden, überall hingen Uhren. Wie lustig die tickten!
»Darf ich einmal hereinkommen?«
Sie betrat den Laden und betrachtete neugierig alle die kleinen Rädchen und Räder, die umherlagen, und einige zerbrochene Schmuckstücke.
»Das ist wohl ’ne sehr kniffliche Sache, Herr Zapp?«
»O ja, man muß dazu Geduld und Geschick haben.«
»Hm«, meinte Bärbel, »Geschick hätte man vielleicht, aber – ob man Geduld hätte? – Wie wird denn solch eine Uhr zusammengesetzt?«
»Sie können ja einmal zusehen, Fräulein Wagner.«
»Ach ja, furchtbar gern. – Können Sie auch diese zerbrochenen Ringe wieder heilmachen?«
»Natürlich.«
»Immer in solch edlem Metall zu arbeiten, muß doch furchtbaren Spaß machen.«
»Ich wollte, ich könnte nur Goldschmied sein, Fräulein Wagner, es ist das schönste Handwerk, das es überhaupt gibt.«
»Ja, auch ein sehr vornehmes Handwerk, immer nur Gold, Silber und Brillanten um sich herum.«
»Wenn es Sie interessiert, Fräulein Wagner, zeige ich Ihnen gern einiges.«
Es interessierte Bärbel ungemein. Am Nachmittage saß sie bei Meister Zapp und schaute voller Neugier alles genau an. Er setzte mit der Pinzette eine Uhr zusammen, und Bärbel konnte gar nicht genug fragen.
»Machen Sie auch Verlobungsringe?«
»Ich habe es natürlich gelernt, Fräulein Wagner, aber in diesem kleinen Orte lohnt es nicht. Jeder Goldschmied muß es natürlich verstehen.«
»Es muß herrlich sein, wenn man Bräutigam ist und ein Goldschmied dazu. Sich dann selbst den Verlobungsring zu schmieden.«
Meister Zapp hielt Bärbel die Hand hin. »Den Ring habe ich gemacht.«
»Gibt es auch Goldschmiederinnen?«
»Freilich, wir haben eine ganze Reihe junger Damen, die die Kunstgewerbeschule