Bei Ebbe geht das Meer nach Hause. Marie Wendland. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie Wendland
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748547679
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      „Gaby, überleg doch mal. Lass uns einfach gehen“, wandte sie sich noch einmal leise an die Freundin. Gaby schwankte sichtlich zwischen ihrer Freundin und dem, was sie insgeheim auch für richtig hielt, und Bettina und ihrem Gefolge, das endlich bereit schien, sie aufzunehmen.

      „Bitte, Gaby!“ Klaras strahlend blaue Augen hatten einen flehenden Ausdruck angenommen und schimmerten bereits feucht. Aber Gaby schüttelte nur entschuldigend den Kopf und ließ sich neben die anderen auf den Kantstein sinken.

      Klara fühlte sich plötzlich, als würde sie im stürmischen Meer ertrinken. In ihrem Kopf hämmerte es und ihre Beine waren wie gelähmt. So viel zum Thema Freundschaft!

      „Siehst du“, triumphierte Bettina hämisch, „niemand interessiert sich für den ollen Kuchen und die olle Blum. Wir hängen hier lieber noch ab.“

      Und dann auf einmal war es heraus: „Nein!“ Klara würde hier nicht noch weiter abhängen! Plötzlich funktionierten auch ihre Beine wieder und sie drehte sich um und ging.

      ~

      Sie hatte noch nicht ganz realisiert, was sie da eben getan hatte (sich Bettina Waldschleger widersetzt!), als sie merkte, wie weit sie schon gegangen war. Hinter ihr lagen das Dorf und ein kleines Wäldchen, vor ihr erstreckte sich die Heidelandschaft. Zu ihrer Linken konnte sie den Deich erkennen, auf dem sie vorhin ins Dorf gelaufen waren, aber direkt vor ihr erhob sich der Westturm zwischen den Dünen. Sie konnte also genauso gut diesen Weg weitergehen, um dorthin zurückzukommen. Rechts von sich hörte sie ein rhythmisches Rauschen und wusste, dass dort hinter der hohen Dünenkette das offene Meer liegen musste. Unglaublich, dass sie schon seit fast vierundzwanzig Stunden hier war, ohne den Strand gesehen zu haben. Ein Weg aus Holzplanken führte wenige Meter vor ihr über die Düne und nach einem prüfenden Blick auf die Uhr folgte sie diesem.

      Oben angekommen eröffnete sich ihr ein atemberaubender Blick auf den breiten Strand, der durch eine Reihe weißer Schaumkronen vom tiefblauen Meer getrennt war. Bis zum Horizont war da nichts außer diesem Blau und darüber der ebenfalls strahlend blaue Himmel. Überwältigt von dieser Weite hockte Klara sich auf die Planken, die von der Sonne ganz warm waren. Sie musste den Kopf nur ein kleines Stück drehen, dann konnte sie das Meer, die Insel und das Watt auf der anderen Seite des Deichs mit einem Blick erfassen.

      Klara versuchte die Gedanken, die in ihrem Kopf verrücktspielten, zu ordnen, aber es wollte nicht gelingen. Hier oben schien alles ganz klar und einfach. Hier das Wasser, dort das Land, klar voneinander abgegrenzt. Wenn doch alles so einfach wäre. Sie richtete den Blick wieder auf den Horizont und atmete tief die salzige Luft ein. Der frische Wind kühlte ihr erhitztes Gesicht und wirbelte ihre honigblonden Haare herum. Mit einem Mal löste sich der zähe Nebel in ihrem Kopf, der es ihr unmöglich gemacht hatte zu denken, und sie wurde ganz ruhig. Es war so einfach. Hier das Wasser, dort das Land, hier richtig, dort falsch. Sie wusste, was für sie richtig war und sie hatte es schon immer gewusst. Also würde sie ab jetzt auch danach handeln. Aber was würden die anderen sagen? Wie würden sie sie behandeln? In diesem Moment machte ihr das keine Angst mehr. Jahrelang hatte sie versucht, sich anzupassen, nicht aufzufallen, und was hatte es ihr genützt? Gar nichts. Sie war trotzdem nur Klara Strebermeier und eine echte Freundin hatte es ihr auch nicht eingebracht. Der Gedanke an Gaby, wie sie sich in Bettinas Gefolge einreihte, tat immer noch weh. Also Schluss mit all dem. Ab heute gab es nur noch Klara Spelmeier und die stand zu sich selbst.

      Kapitel 1

      Edinburgh, April 2018

      „Vielen Dank, hier Ihre Tickets. Möchten Sie noch einen Audio-Guide dazu buchen?“, fragte die Dame hinter der Glasscheibe des Schalters möglichst freundlich und in möglichst akzentfreiem Englisch. Tagesformabhängig fiel ihr das eine oder das andere schwerer.

      Heute drängelten sich mal wieder besonders viele Touristen aus aller Welt auf dem Vorplatz des Edinburgh Castles. Alle waren vorwiegend kurz angebunden und gehetzt, um möglichst schnell dem kalten Nieselregen zu entkommen, der heute die ganze Stadt einhüllte. Da war eine Schlossbesichtigung doch die ideale Beschäftigung, um diesen Regentag sinnvoll zu nutzen. Besonders wenn man Athlet im touristischen Triathlon war und eine Stadt in kultureller, kulinarischer und architektonischer Sicht in unter einem Wochenende zu bezwingen versuchte. Eigentlich eine Verschwendung der 17 Pfund pro Ticket, dachte die Dame hinter der Glasscheibe, während sie kurz dem amerikanischen Pärchen nachblickte, das sich eilig in das erstbeste Gebäude des Schlosskomplexes schob. War doch die Aussicht vom Edinburgh Castle, das auf seinem Felsen über der Stadt thronte, mindestens ebenso viel wert, wie einen kurzen Blick auf die hier lagernden schottischen Kronjuwelen zu erhaschen. Heute war diese Aussicht aber leider nur zu erahnen. Hinter dem Nebelschleier hätte sich ebenso gut der brasilianische Dschungel, die sibirische Tundra oder ein galaktisches Portal in ein anderes Sonnensystem verbergen können. Das wäre doch mal eine echte Attraktion, überlegte unsere freundliche Ticketverkäuferin und wandte sich den nächsten Kunden zu, Koreaner ihrem geschulten Blick nach.

      Im Hintergrund strömten ebenso viele Menschen schon wieder aus dem Schloss heraus, wie immer noch in einer kompliziert gewundenen Schlange auf Einlass warteten. Wie Wasser in einem Kanal strömten sie die Royal Mile, die touristische Schlagader der Old Town hinab, die von verrußten, mittelalterlichen Häusern eng umschlossen wurde. Wer den Besuch im Castle schon abgehakt hatte, konnte jetzt in Souvenirshops mit einer schier endlosen Auswahl an Schals mit Schottenkaro oder bei Bier und Burger in einem gemütlichen Pub typisch schottische Lebensart tanken. Manche wagten sich aber auch aus dem Schutz der Vordächer heraus und durch die Princes Gardens, die in dem natürlichen Graben, der die Old von der New Town trennte, angelegt waren. Auf der anderen Seite angekommen wurden sie dafür von der breiten Princes Street belohnt, an der namhafte Markenstores mit schicken Glasfronten wie aufgereiht nebeneinander lagen.

      Hatte das trübe Wetter, das zu allem Überfluss schon in die zweite Woche ging, also durchaus das Potential hart arbeitenden Edinburghern die Laune zu verderben, tat es dem touristischen Erlebnis kaum einen Abbruch. Viele Besucher schienen den stetigen Nieselregen sogar als festen Bestandteil ihres Wochenendprogramms zu betrachten - typisch schottisch eben.

      Einige besonders Hartgesottene spazierten sogar auf dem Calton Hill, der die Royal Mile und die parallellaufende Princes Street am östlichen Ende begrenzte und quasi auf Augenhöhe mit dem Edinburgh Castle lag. Gut in grellbunte Wetterjacken verpackt fotografierten sie in zügiger Abfolge den schmalen Turm des Nelson Monuments, das National Monument, das dem griechischen Pantheon nachempfunden war, und dieses dritte Monument, das auf jeder zweiten Postkarte der Stadt zu sehen war. Dieses runde mit den Säulen, dessen Namen sich irgendwie keiner merken konnte. Dann versuchten sie noch, durch die grauen Schwaden den Firth of Forth am Horizont auszumachen, und bewunderten pflichtschuldig den fantastischen Blick auf die Stadt. Danach konnten sie sich endlich auf den Rückweg machen, um zum nächsten Programmpunkt überzugehen. Am besten dem mit Bier und Burger.

      ~

      Hätte jedoch einer von ihnen das National Monument etwas eingehender betrachtet, das sich in seiner tonnenschweren Nutzlosigkeit (man konnte es tatsächlich noch nicht einmal betreten) düster vom grauen Himmel abhob, wäre ihm jemand aufgefallen, der es irritierenderweise nicht so eilig hatte, dem Wetter zu entkommen: Zwischen den Säulen und durch den Querträger mehr schlecht als recht von der durchdringenden Nässe geschützt saß ein Mädchen.

      Zuerst fielen ihre rostroten Haare auf, die ihr lockig über den Rücken fielen. Der Rest des Mädchens verschwand fast in einem dunkelblauen Hoodie mit der Aufschrift „University of Edinburgh“. Dabei erschien ihr jeder Gedanke an ein Studium an dieser Universität genauso unrealistisch, wie den feuchten Sweatstoff auszufüllen. Beides war ihr mindestens drei Nummern zu groß. Aber eigentlich hatte sie solche Gedanken auch nie. Sie hatte mal gehört, die Zukunft sei ein Buch, dessen Seiten ein jeder selbst beschreiben konnte. Nur leider hatte sie immer das Gefühl, dass jemand in ihrem Buch schon herumgekritzelt hatte. Und das auch noch auf Chinesisch, sodass sie keine Ahnung hatte, was der Witzbold sich dabei gedacht hatte. Aber auch darüber machte sie sich eigentlich keine Gedanken. Ihr Leben war eben so, wie es war. Meistens funktionierte dieser Ansatz ganz gut. Klar, manchmal war das Leben auch einfach scheiße, aber das hatte ja wohl schließlich jeder