Bei Ebbe geht das Meer nach Hause. Marie Wendland. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie Wendland
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748547679
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nicht mehr und nicht weniger. Und so machte dieses rothaarige Mädchen eben das, was sie so machte. Wie zum Beispiel an einem kühlen Aprilsonntag auf dem National Monument zu sitzen und zu warten.

      Heute wartete sie für ihren Geschmack aber schon entschieden zu lange. Sie war ja schließlich nicht zum Spaß hier und außerdem wurde ihr langsam kalt. Entnervt kickte sie mit ihrem Turnschuh eine gebrauchte Spritze beiseite. Ja, diese Souvenirs übersahen die Touristen immer, dabei war doch bekannt, was auf dem Calton Hill nachts so abging. Sie hatte dieses nächtliche Treiben schon des Öfteren miterlebt, trotzdem würde sie selbst nie etwas nehmen. Nur falls das jetzt jemand denken sollte.

      Das Mädchen zog die Kapuze über den Kopf und duckte sich, als eine Familie mit zwei nörgelnden Kindern ziemlich dicht an ihrem Platz vorbeiging. Auf diese Leute wartete sie bestimmt nicht. Sie atmete auf, als alle vier an ihr vorbei waren, ohne sie zu bemerken. Vielleicht hatten sie sie auch gesehen, nahmen aber einfach keine Notiz von ihr. Nicht aufzufallen war fast wie unsichtbar zu sein, hatte sie festgestellt. Und das war eine Gabe.

      Jetzt näherte sich ihr wieder eine Gestalt, aber dieses Mal erkannte sie schon von weitem ihre Kontaktperson. Na endlich!

      „Hey, Swirrel!“, tönte der junge Mann schon, bevor er auf fünf Meter herangekommen war.

      „Schrei noch lauter, Josh“, entgegnete die Angeredete mit gedämpfter Stimme und blickte dabei möglichst unbeteiligt in die andere Richtung. Man nannte sie Swirrel, Eichhörnchen, wegen ihrer roten Haare, die sie wie auch heute meist zu einem dicken Zopf band. Sie hasste diesen Spitznamen, denn er erinnerte sie ständig daran, dass ihre Haare rot waren wie eine Signalflagge. Außerdem waren die roten Eichhörnchen in Großbritannien vom Aussterben bedroht, na herzlichen Dank auch! Trotzdem war Swirrel ihr immer noch lieber als ihr richtiger Name, irgendwie anonymer.

      „Stell dich nicht so an, hier is‘ doch kein Schwein.“ Josh steckte sich eine Zigarette an und blies bläuliche Kringel in den Regen.

      „Jetzt sag‘ schon, was du zu sagen hast“, versetzte Swirrel entnervt, „ich hab‘ schließlich nicht den ganzen Tag Zeit.“

      „Oh, die Dame hat noch Verpflichtungen“, sagte Josh gedehnt und lachte, wobei er ein grunzendes Geräusch von sich gab. Der Typ ist wie ein ganzer Bauernhof, dachte Swirrel wieder einmal, lacht wie ein Schwein, hat ein Gesicht wie eine Ratte und ist doof wie ein Schaf. Wobei das jedem Schaf gegenüber eine Beleidigung war. Sie nannte ihn insgeheim deswegen auch „Unsere kleine Farm“. Das war einer ihrer Tricks sich Dinge einzuprägen, sie dachte sich passende Spitznamen dafür aus. Vielleicht wäre sie sogar auf die Sache mit Swirrel selbst gekommen. Zum Glück brauchte sie aber noch keine Eselsbrücke um sich zu merken, wer sie selbst war.

      Als Josh aufgehört hatte zu lachen, baute er sich wichtig vor ihr auf: „Heute Abend steigt das Ding. 23:00 Uhr. Bushaltestelle am Theater. Crispy wird da sein. Kannst du dir das merken?“

      Swirrel schnaubte. Natürlich konnte sie sich das merken. Sie war nur ehrlich überrascht, dass Josh das auch hinbekommen hatte. Sichtlich zufrieden mit dieser Leistung, blies er jetzt weitere Kringel in die Luft. Als er sich wieder umdrehte, war der Platz auf dem National Monument leer. Das Mädchen war verschwunden.

      ~

      Swirrel grinste, als sie die Stufen vom Calton Hill hinuntereilte und unten angekommen über einen alten Friedhof huschte. Wie einfach war es doch, Josh unbemerkt stehen zu lassen. Jetzt musste sie nur noch schnell zurück in die Wohngruppe, sonst verpasste sie das Abendessen. Und das würde auffallen und Auffallen war das letzte, was sie wollte. Aber auch der Rückweg war einfach. Es war Sonntag, die Stadt war voll, da konnte sie einfach so in der Menge verschwinden. Außerdem war es ja schließlich nicht verboten, sonntagabends durch die Innenstadt zu spazieren. Sie nahm hier und da eine Abkürzung durch einen Hinterhof, dann hatte sie schon Tollcross erreicht. Dieser Stadtteil war bei weitem nicht so historisch wie die Old Town, so pompös wie die New Town oder so idyllisch wie das beschauliche Stockbridge. Dafür galt Tollcross inzwischen als in.

      Swirrel bog um die letzte Ecke, dann verlangsamte sie ihre Schritte, strich sich die losen Strähnen aus dem Gesicht und ging gelassen weiter, als wäre sie nur mal kurz beim Kiosk gewesen. Das Haus, in dem ihre Wohngruppe untergebracht war, war ein schmuckloses, zweigeschossiges Gebäude, das niemandem auffiel und das von außen nicht preisgab, was sich drinnen befand. Das gefiel Swirrel irgendwie. Sie schloss lautlos die Tür auf und wollte schnell in ihrem Zimmer verschwinden, um den nassen Pulli loszuwerden. Sie hatte die Tür im ersten Stock schon fast erreicht, da hörte sie eine vertraute Stimme hinter sich: Laurel Todd, 32 Jahre alt, Sozialarbeiterin und ihre Betreuerin hier in der Wohngruppe.

      „Ally?“ Sie hasste es, wenn jemand sie beim Namen rief. Das war, als würde plötzlich ein Scheinwerfer auf sie gerichtet werden. Sie ignorierte die Stimme und ging weiter, aber Laurel ließ sich nicht abschütteln. „Allison Christie, ich rede mit dir!“ Das waren jetzt mindestens zwei fette Scheinwerfer.

      Unwillig drehte sie sich um und setzte ein möglichst unschuldiges Lächeln auf. „Hallo Laurel, hab‘ dich gar nicht gehört.“

      Laurel überging höflich, dass das äußert unglaubwürdig war und fuhr unbeirrt fort: „Bin ich froh, dass ich dich gefunden habe, ich suche dich schon den ganzen Nachmittag. Wo warst du denn?“

      „In der Stadt“, antwortete Ally ausweichend und wollte weitergehen, aber Laurel ließ nicht locker.

      „Und wo hast du so abgehangen? Los, sag‘ mal, vielleicht kannst du mir ja noch ein paar coole Spots verraten“, fragte sie aufgesetzt lässig.

      Ally verdrehte die Augen. „Hier und da, war nur ein bisschen an der frischen Luft.“

      Laurel änderte blitzschnell die Strategie, setzte ihr strenges Erwachsenengesicht auf und versuchte es noch einmal: „Allison Christie, du bist noch nicht volljährig und ich habe die Verantwortung für dich. Du sagst mir jetzt auf der Stelle, wo du heute warst!“ Ally schwieg, was zeigte, wie wenig respekteinflößend Laurel war. Bei niemandem sonst hätte Ally sich das getraut.

      „Du hast doch nicht wieder gestohlen?“, flüsterte Laurel jetzt übertrieben leise dafür, dass die beiden nach wie vor alleine im Flur waren.

      „Ich habe noch nie gestohlen“, entgegnete Ally und das war die Wahrheit.

      Ja, Ally schlich sich häufig fort und stromerte durch die Stadt, auch an Orte, die für ein junges Mädchen gemeinhin wenig typisch und auch wenig geeignet waren. Ja, Ally verkehrte mit Leuten, die man gut und gerne kleinkriminell nennen konnte. Neben ihrer Gabe, nicht aufzufallen, war sie klein und flink, hatte eine schnelle Auffassungsgabe und ein gutes Gedächtnis. Zudem kannte sie die Stadt inzwischen besser als ihre Westentasche. All das machte Ally zum perfekten Spitzel. Und so erfuhr so manche zwielichtige Gestalt regelmäßig von ihr, wer mit offenem Fenster schlief, unter welchem Blumentopf der Haustürschlüssel versteckt war oder welcher Hotelgast die neueste Fotoausstattung im Gepäck hatte. Dass diese Betätigung auch nicht gerade ehrenhaft war, war Ally dabei egal. Sie stahl ja nie selbst. Und außerdem achtete sie penibel darauf, dass niemand auf Grund ihrer Informationen verletzt wurde, dann passte das schon. Naja, jeder zog seine moralischen Grenzen eben anders.

      Laurel zuckte die Schultern. Ally war sich nicht sicher, inwieweit sie ihr glaubte. Dass Laurel ihre Streifzüge durch die Stadt so oder so nicht guthieß, war aber ohnehin klar. Ihre Betreuerin wollte, dass Ally das tat, was Jugendliche in ihrem Alter normalerweise taten: Mit ihren Mitbewohnern in der Küche sitzen und quatschen, mit den Klassenkameraden beim Imbiss abhängen, mit der besten Freundin shoppen gehen. Blöd nur, dass Ally eigentlich keine Freunde hatte. Was hätten die auch mit jemandem anfangen sollen, der kaum einen zusammenhängenden Satz herausbrachte, wenn mehr als zwei Leute dabeistanden. Aber sie fühlte sich in Gesellschaft einfach unwohl, denn Gesellschaft hieß, dass sie unweigerlich beachtet wurde. Allein die Vorstellung, in einer Boutique eine Jeans zu probieren und sich den Ratschlägen der Verkäuferin erwehren zu müssen oder auf die plumpen Flirtversuche ihrer Mitschüler einzugehen, war ihr ein Graus. Nicht dass sie all das nicht ausprobiert hätte, es führte aber leider nur zu dem Ergebnis, dass Ally regelmäßig im Boden versinken wollte. Laurel das klar zu machen, hatte sie bereits mehrfach