Totenläufer. Mika M. Krüger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mika M. Krüger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738090222
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Sie knetete ihre Hände, die Zeit tickte in ihrem Kopf. Draußen hörte sie Stimmen und hastige Schritte. Ihre Füße wippten nervös und immer wieder ertappte sie sich dabei, wie sie an der rauen Haut an ihrem Unterarm kratzte.

      Die Enge des Raums war so bedrückend, dass Rina letztendlich aufstand, die Metalltür vorsichtig öffnete und in den Flur spähte. Unweit entfernt konnte sie die Frau sehen, die vor dem Fahrstuhl Wache hielt. Sie sprach mit jemandem und hatte den Blick abgewandt.

      Ihre Chance. Jetzt wo sie schon mal hier war, würde sie sich nicht auch noch sagen lassen, was sie tun oder lassen sollte. Niemand machte ihr Vorschriften.

      Sie nahm an, dass die Besprechungsräume am anderen Ende des Flurs waren, dort, wo sich in ihrer Etage die Aufenthaltsräume befanden. Deshalb schlüpfte sie auf den Gang, stahl sich unbemerkt an einigen Rebellen vorbei und bog dann um die Ecke. Mit schnellen Schritten huschte sie an etlichen Türen vorbei, bis sie eine Stimme hörte, die sie aufhorchen ließ. Kalt und überheblich mit der Note feurigem Stolzes. Es war der Mann mit dem Adler auf der Wange. Innerlich nannte sie ihn Greif, obwohl die Anmut dieses Fabelwesens nichts mit ihm gemein hatte. Es war eher die Aggressivität, die sie mit ihm verband.

      Vorsichtig ging sie näher heran und hörte seine Worte nun deutlicher.

      »Es war von Anfang an ein Risiko. Dass Tom die Ausbildung als SDF-Soldat absolviert, die Beschattung des Totenläufers, unsere Einmischung in bestimmte Vorgänge der Stadtverwaltung. Diese ganze Organisation ist ein einziges Risiko. Es gibt da nichts zu diskutieren. Wir werden den Totenläufer stellen. Ob heute oder erst in ein paar Monaten ist dabei irrelevant.« Seine Stimme war abgeklärt und hart.

      »Das mag ja vielleicht sein und trotzdem sage ich, dass die Sache bis zum Himmel stinkt. Wenn Neel Talwar wirklich der Totenläufer ist, dann verstehe ich nicht, wieso Tom ihn so leicht verfolgen konnte. Müsste er nicht unter ständiger Beobachtung stehen? Was ist, wenn das alles eine Falle ist?« Eine Frau sprach. Es war jedoch nicht der Rotfuchs, denn ihre Stimme war zu aufbrausend.

      »Tom hat seinen Job gemacht«, sagte der Greif. »Ich werde nicht in Frage stellen, ob er ihn gut gemacht hat oder nicht.«

      Daraufhin war es kurz still und ein Murmeln folgte: »Das wollte ich so nicht sagen.«

      »Wer auf einer wackeligen Brücke läuft, hat nicht viele Möglichkeiten«, sagte der Greif. »Entweder es geht vorwärts, rückwärts oder mitten durch die Latten in den Tod. Rückwärts rudern ist keine Option. Tom muss da raus, und zwar bevor jemand Wind davon bekommt, was er die letzten Monate gemacht hat.«

      »Das verstehe ich ja, nur …«

      »Rina?« Eine Stimme direkt neben ihr. Abrupt drehte sie sich um und sah in die hellblauen Augen des Rotfuchses. Ihr Gesicht war überrascht, in den Händen hielt sie einige Papiere. Ein seltener Anblick in einer Stadt, die größtenteils auf elektrische Medien umgestiegen war. »Was suchst du denn hier?«, fragte sie und durch Rinas Körper jagte Nervosität.

      »Ich, ich will …«, begann sie und verhaspelte sich. Kein guter Einstieg für ein Gespräch, in dem sie Forderungen stellen wollte. Sie durfte nicht den Faden verlieren. »Ich möchte Antworten. Wo ist der Soldat?«

      »Du meinst den Soldaten von deiner Flucht?«

      Sie antwortete nicht. Es musste doch klar sein, dass es um ihn ging. Der Rotfuchs betrachtete sie nachdenklich.

      »Tom ist nicht hier, Rina. Er ist bei einem Einsatz und wird noch etwas brauchen, ehe er zurück ist. Wenn du darüber sprechen möchtest, können wir das in ein paar Minuten machen. Warte in deinem Zimmer, ich komme dann zu dir und versuche, alle Fragen zu klären, die dir einfallen. Bist du damit einverstanden?«

      Das war nicht, was sie wollte.

      »Nein«, sagte sie. »Ich werde nicht hinnehmen, dass er weiter Unschuldige tötet.«

      Der Rotfuchs seufzte.

      »Darum geht es dir also. Ich versichere dir, Tom wird niemandem mehr schaden. Sein Einsatz ist so gut wie beendet. Lass uns darüber reden, aber nicht hier. Diese Etage ist normalerweise für Neulinge tabu. Wenn du ohne Anmeldung hier herumläufst, kannst du Ärger bekommen. Ich dachte, das hatte ich dir schon gesagt.«

      Daran erinnerte sich Rina nicht. Das Einzige, was ihr deutlich vor Augen stand, war der dunkle Ort, an dem sie geschuftet hatte. Die Gesichter der Toten und der Teer unter ihren Füßen. Sie konnte diese Sache nicht einfach so auf sich beruhen lassen.

      »Ich muss mit ihm reden«, sagte Rina. »Ich will wissen, warum er das getan hat.«

      »Du wirst mit ihm reden können, aber alles braucht seine Zeit.« Die Papiere drohten dem Rotfuchs aus dem Arm zu rutschen, weshalb sie sie mit einem Ruck wieder nach oben schob. »Ich bin gerade wirklich beschäftigt. Gib mir wenigstens zehn Minuten und dann nehme ich mir die Zeit, die du brauchst.«

      Doch Rina wollte nicht warten.

      »Der Einsatz«, sagte sie. »Es geht darum, dass der Soldat den Totenläufer schnappt, richtig?«

      »Rina, das ist wirklich nichts, was dich beschäftigen sollte.«

      »Wieso, weil es geheim ist? So wie die Ausrottung der Lorca und die Tatsache, dass es gar keine Krankheit gibt? Niemand soll seine Nase in Sachen stecken, die ihn nichts angehen. So funktioniert das, nicht wahr? Wir für die Stadt. Wir für die Sicherheit. Das sagen sie doch immer. Die Leute von der Verwaltung. Ich kann mit Geheimnissen leben, denn ich bin selbst eins. Und deshalb bleibe ich hier, bis ich weiß, wo der Soldat ist.«

      Ein metallisches Klopfen erklang neben ihr. Als sie sich zur Seite drehte, stand der Greif lässig im Türrahmen. Auf seinen Lippen lag ein interessiertes Grinsen.

      »Dein Wort in den heiligen Ohren der Verwaltung«, meinte er. »Bleibt offen, was du tun wirst, wenn du deine Antwort hast, Sweetie. Dich aus dieser Unterkunft schleichen, die SDF überlisten und … ihn hinrichten?«

      Er musterte sie aufmerksam. Der Greif, der genüsslich seine Beute betrachtete. Für ihn war sie doch nur jemand, den man gut und gerne entbehren konnte. Und so jemand nannte sich Lorcafreund.

      »Ich tue, was nötig ist«, sagte sie mit Nachdruck, dabei fühlte sie sich längst nicht mehr wohl in ihrer Haut.

      »Was nötig ist, also? Starke Worte aus dem Mund einer Frau, die sich seit Tagen in ihre Zimmer verkriecht.«

      »Jay, es reicht. Das ist alles andere als zielführend.«

      »Das ist es durchaus«, sagte er, ohne den Blick von Rina abzuwenden. »Willst du ihn töten, den Soldaten? Bist du bereit, für deine Rache jemanden bluten zu lassen? Wenn ja, dann hast du eine Ahnung davon, was wir hier tun. Wir spielen nicht mit harmlosen Plastikwaffen. Es ist bitterer Ernst und manchmal verfehlen wir das Ziel. Das gehört dazu. Dein Problem ist nicht der Soldat, sondern die Verwaltung und was sie aus uns macht: Mörder.«

      Etwas in Rina kreischte laut auf und wollte ausbrechen. Wie er so dastand und auf sie herabsah, verströmte er selbst die Aura eines Stadtverwalters.

      »Ich töte niemanden. Was ich tun werde, ist meine Sache.«

      Er pfiff durch die Zähne und verschränkte die Arme vor der Brust.

      »Ich nehme an, es hat etwas mit deinem Lorcaism zu tun. Der Einzigartigkeit, die dich neben den äußerlichen Dingen von uns unterscheidet. Was hat dir deine genetische Abnormität geschenkt? Du bist schnell, hast verhältnismäßig viel Glück und kannst dich offenbar gut anschleichen, aber das ist es nicht. Es muss etwas sein, was dir stets den Arsch gerettet hat. Ein fotografisches Gedächtnis, ein überdurchschnittliches Gehör, Nachtsicht?«

      »Ich besitze keinen Lorcaism«, sagte sie, doch der Greif blieb unbeeindruckt.

      »Du lügst, das kann ich dir von der Nasenspitze ablesen. Du wirfst uns vor, Geheimnisse zu haben, aber verrätst nicht, was dir Vorteile bringt. Merkst du, dass da ein Missverhältnis besteht?«

      Nun mischte sich der Rotfuchs wieder ein, doch ihre Worte hörte Rina nicht. Sie konnte die Gedankenfetzen des Greifs lesen. Sie