Totenläufer. Mika M. Krüger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mika M. Krüger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738090222
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sich für ein atmosphärisches Schwarz-Weiß-Foto eignete. Ein eiserner Mann, in einer eisernen Stadt, umgeben von Dunkelheit. Es hatte jedoch keine Ähnlichkeit mit dem Bild, das die Propagandaclips der Stadtverwaltung von ihm zeigten. Der Totenläufer als mutiger Veteran. Jederzeit bereit, unliebsame Entscheidungen zu treffen. Aufrecht, stolz und gradlinig. Ein Un-Mensch, der auf andere herabblickte und für eine falsche Gerechtigkeit sorgte.

      Nach einer Weile, die der Totenläufer mit nachdenklichem Schweigen verbrachte, setzte er seinen Weg fort und Tom folgte ihm. Sie erreichten einen unauffälligen Betonbau mit Metalltor. Zwei SDF-Soldaten hielten davor Wache.

      Tom schaltete das Wärmebild aus und duckte sich hinter eine Treppe in der Nähe. Von dort aus hatte er gute Sicht auf das Gebäude, konnte jedoch jederzeit die Flucht ergreifen.

      Der Totenläufer reichte einem Soldaten etwas, von dem Tom annahm, es sei die Marke der SDF. Ein ovaler Gegenstand in Silber, der nicht nur die Zugehörigkeit zur SDF bestätigte, sondern gleichzeitig die wichtigsten Daten über Dienstgrad und die persönliche Statistik enthielt. Die beiden begannen ein Gespräch, doch die Worte wurden von der Nacht verschluckt.

      »Glaub nicht, dass wir auf sowas nicht vorbereitet sind«, flüsterte Tom leise und bedankte sich in Gedanken für die großzügigen Spenden ihrer Finanziers. Ohne die wären sie technologisch der Stadtverwaltung weit unterlegen.

      Er vergewisserte sich, dass über ihm keine Kamera angebracht war, zog dann aus seiner Tasche ein knopfgroßes Funkgerät und steckte es sich ins Ohr. Mit dem Zeigefinger schaltete er es ein und stellte mit Hilfe des Silbertabs eine Verbindung zum Kaninchenbau der REKA her. Ein Knacken verriet ihm, dass der Vorgang erfolgreich abgeschlossen war.

      »Schleuser T. Brauche Abhörung in Stadtteil Ost, Industrieviertel.«

      Es rauschte, dann ertönte eine unklare Stimme: »Schleuser T, hier Kaninchenbau. Brauche genaue Adresse.«

      Tom warf einen Blick auf die Vorrichtung um seinen Arm und nannte die gesuchte Adresse. Am anderen Ende wurde er um Geduld gebeten. Noch war der Totenläufer ins Gespräch vertieft. Tom ließ ihn nicht aus den Augen und biss sich auf die Haut an seiner Hand.

      »Es gibt eine Kamera mit Tonaufnahme am Eingang und im Gebäude.«

      »Die am Eingang ist perfekt.«

      »Okay, ich spiele die Aufnahme ein.«

      Dann brach die Verbindung ab. Es dauerte noch einen Augenblick, dann hörte Tom die Stimmen in seinem Ohr. Sie klangen dumpf und undeutlich, sodass er seine Hand über die Ohrmuschel halten musste, um zu verstehen, worum es ging.

      »… dafür gibt es keine Berechtigung.« Die Stimme eines fremden Mannes. Der Soldat, das stand außer Frage. Er war dominant, aber eingeschüchtert.

      »Es ist eine direkte Anweisung von Amanda Whitman.« Der Totenläufer war so ruhig wie in der Bar, doch seine Worte duldeten keinen Widerspruch.

      »Die Zählung ist abgeschlossen. Es gibt keinen Grund, das anzuzweifeln.«

      »Wir zweifeln nicht die Zählung an, sondern den korrekten Abtransport.«

      »Die Überstellung ist für morgen angesetzt, da die Kapazitäten erschöpft sind. Das haben wir der Zentrale bereits mitgeteilt.«

      »Es geht auch nicht um den Termin. Die Leiche des Menschen gehört nicht nach Safe City, es liegt eine Verwechslung vor. Für ihn ist eine andere Überstellung vorgesehen.«

      »Jede Person ohne Nutzen wird so überstellt. Ich weiß nicht, was Einheit 203 das überhaupt angeht. Ihr kümmert euch um eure Einsätze und wir machen hier unsere Arbeit.«

      »Unser Aufgabenfeld ist breiter gefächert, als du annimmst. Nur ist dein Sicherheitsrang nicht hoch genug, um das zu wissen.«

      Tom versuchte zu begreifen, worum es ging. Er wusste, dass die Überstellung von Leichen, meist Lorca, über den Hochsicherheitskomplex Safe City abgewickelt wurde. Dieser Bezirk befand sich am Rand der Stadt und lag unter einem ovalen Schutzdach verborgen. Niemand von der Bevölkerung wusste, was sich im Detail dort abspielte. Es war eine Forschungseinrichtung, ein Waffentestlabor und ein Platz zur Verwahrung nutzloser Personen. Nur wie genau war dieses Gespräch mit der vermeintlich spontanen Idee des Totenläufers zusammenzubringen? War seine Aussage etwa nur eine Täuschung gewesen, um sich schnell verabschieden zu können, damit er einen Auftrag beenden konnte, der keinen Aufschub duldete? Nur zum Teufel, weshalb war Neel Talwar überhaupt zur Bar gegangen, wenn er noch etwas zu erledigen hatte? Wie Tom es auch drehte, es ergab keinen Sinn.

      »Ich kann dich trotzdem nicht durchlassen«, antwortete der Soldat. Die Selbstsicherheit in seiner Stimme bröckelte.

      »Ich würde mir gut überlegen, was du tust. Nicht, dass du wegen dieser Kleinigkeit deinen Nutzen verlierst«, sagte der Totenläufer.

      »Meinen Nutzen? Du bist ja nicht mal im Dienst. Nur weil ihr überall in den Medien zu sehen seid, heißt das nicht, dass ich vor euch kusche.«

      »Ich bin Leutnant, Soldat. Vergiss das nicht. Was ich sage, tust du. Zuwiderhandlungen werden bestraft oder ist dir entfallen, wie die Befehlskette funktioniert?«

      Daraufhin versank der Soldat in störrisches Schweigen, starrte den Totenläufer an, nur um sich letztendlich doch abzuwenden und mit Hilfe einer Vorrichtung die Metalltür zu öffnen.

      Das Innere des Betonbaus war beleuchtet und glich einer Lagerhalle. Eine Zwischenstation bei der Überstellung von Leichen also. Der Totenläufer verschwand darin und der Soldat folgte ihm.

      Toms Finger berührte den Funkknopf in seinem Ohr.

      »Schleuser T. Brauche Abhörsignal für den Innenraum.«

      »Verstanden«, bekam er als Antwort.

      Erst hörte er nur ein statisches Rauschen, dann kristallisierten sich Schritte heraus, die langsam näher kamen. Undeutlich waren auch Stimmen zu vernehmen. Der Totenläufer gab eine Anweisung und Tom konnte nur vermuten, dass er den Soldaten wieder nach draußen schickte, denn dieser tauchte wenig später vor dem Betonbau auf, wo er sich mit dem anderen Soldaten zu unterhalten begann.

      »Was suchst du da?«, murmelte Tom und lauschte angestrengt in die Stille hinein. Viel erwartete er nicht, hoffte dennoch auf so etwas wie ein Wunder. Das Rascheln von Stoff war zu hören, Plastik und ein Reißverschluss. Womöglich die Hülle zum Abtransport der Leichen. Tom schloss die Augen, um sich die Szene vorzustellen. Der Totenläufer schaltete einen PC ein. Er erkannte es an dem leisen Piepen gefolgt von dem gleichmäßigen Rhythmus des Tippens auf einer Tastatur. Eine Abänderung des Abtransports vielleicht? Das Scharren eines Stuhls. Wieder das Plastik und ein seltsam metallenes Geräusch. So als steckte er etwas ineinander. Nur was? Tom stellte sich vor, dass er vor der Leiche hockte, sie betrachtete. Das graue Gesicht, die blauen Lippen, die dunklen Leichenflecken. Dann, in der Stille, Neel Talwars unverkennbare Stimme: »Ich bin gespannt, ob du damit rechnest«, sagte er mit Verachtung in der Stimme. »Widerstand ist Widerstand, egal in welcher Art.«

      Widerstand? Hatte er dieses Wort tatsächlich in den Mund genommen? Tom spürte seinen nervösen Herzschlag, das Pochen in der Schläfe, die Zerrissenheit, die er bereits in der Bar empfunden hatte. Plötzlich summte es im Funkgerät. Sofort bestätigte er mit einem Druck auf das Gerät die Annahme der Verbindung.

      »Schleuser T, es wurde ein Alarm ausgelöst. Du bist nicht mehr sicher.«

      Rasch sah Tom auf. Ihm war nicht aufgefallen, dass sich einer der wachhabenden Soldaten in seine Richtung bewegte, die RMP7 auf Anschlag.

      Augenblicklich reagierte er, schaltete alle elektrischen Geräte ab, stand auf und rannte die Treppe hinauf. Hinter sich hörte er einen der SDF-Soldaten einen Befehl brüllen. Keine Zeit zu verlieren. Er zog eine Kapuze über den Kopf, damit ihn die Kameras nicht identifizieren konnten, passierte die verworrenen Straßen des Industrieviertels und hängte den Soldaten irgendwo im Vergnügungsviertel ab.

      Schwer atmend sank er zwischen zwei Verkaufsstände. Seinen Kopf lehnte er an die Häuserwand. Was für ein Tag. Nein, was für eine verfluchte Zeit. Nicht mehr lange und er konnte