Totenläufer. Mika M. Krüger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mika M. Krüger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738090222
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Der Totenläufer klang abgeklärt.

      »Hättest sie besser am Leben gelassen, damit Higgens was aus ihr rausprügelt. Weißt doch, wie gut er darin ist.«

      »Tot oder lebendig spielt keine Rolle. Wir haben ein Ziel, und das ist ein Lorca. Wir verschwenden unsere Zeit nicht mit einer Rebellenvernehmung.«

      »Pff, das Ziel ist doch variabel«, gab der Soldat zurück und darin lag ein Trotz, der Tom ungewöhnlich vorkam. Es war nicht üblich, seinem Vorgesetzten zu widersprechen. Anweisungen wurden umgesetzt, die Handlungen nicht hinterfragt. Das zweite Mal, dass Neel Talwars Autorität von einem Soldaten in Frage gestellt wurde.

      »Du hältst dich an die Vorschriften, Soldat. So wie jeder dieser Einheit. Verstanden?«

      »Sicher, Leutnant Talwar«, antwortete er mit dem Anklang dezenter Ironie und Tom begriff, dass sein Respekt vor dem Totenläufer nur eine Farce war. Wieso?

      Ein hohles Knallen war aus dem Erdgeschoss zu hören. Der Notfallplan. Carens Team sollte alle SDF-Soldaten an einen bestimmten Punkt locken, sie umzingeln und den Totenläufer stellen. Das nahm jedoch viel Zeit in Anspruch und war zudem gefährlich. Viele ihrer Leute hatten nur ein kurzes Waffentraining absolviert, im direkten Gefecht waren sie der SDF unterlegen.

      »War das eine Explosion?«, fragte der Soldat. Seine Schritte hallten durch den Raum. Er bewegte sich von Tom weg, sah vermutlich in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war.

      Seine Chance, die beiden zu überraschen. Ohne weiter nachzudenken, zog er das Tuch der REKA über seine Nase, legte die Maschinenpistole an und verließ seine Deckung.

      Im Raum war der Totenläufer gerade dabei aufzustehen. Der zweite Soldat hatte ihm den Rücken zugewandt. Auf dem Boden lag ausgestreckt die Frau aus seinem Team. Rote Linien zogen sich über grauen Beton. Tom zielte. Zwischen Helm und Schutzweste, dort wo der Nacken war, gab es einen empfindlichen Punkt. Er war leicht zu verfehlen, doch der Soldat war höchstens drei Meter entfernt und bewegte sich nicht. Die Kugel löste sich aus seiner Handfeuerwaffe und traf. Ein effektiver Streifschuss. Blut spritzte gegen die Wände und färbte sie rot. Aus dem Augenwinkel sah Tom, wie Neel Talwars Blick in seine Richtung schnellte, er die RMP7 hob und auf ihn richtete. Akkurat – perfekt.

      Tom kehrte zurück in die Deckung. Kugeln bohrten sich in den Beton auf der gegenüberliegenden Wand. Ein wässriges Gluckern war zu hören. Ein Menschkörper sank zu Boden. Erledigt. Tom sah zum Notausgang. Würde der Totenläufer ihm folgen oder bei dem Soldaten bleiben, wenn er flüchtete? Wäre er bereit, seine Einheit im Stich zu lassen, um ihn zu jagen? Egal, er musste es riskieren.

      Deshalb lief er zum Notausgang. Schnell und gradlinig. Kaum bog er rechts ab, schlugen Kugeln direkt hinter ihm ein. Meine Güte, wenn er nicht aufpasste, endete er als Zahl auf der Liste des Totenläufers.

      Hastig lief er die Treppe hinunter. Das Adrenalin in seinen Adern pochte. Hinter ihm waren die Schritte Neel Talwars zu hören. Er gegen den Held der Stadt.

      Gerade als er den Notausgang verließ, sich entschied, in Carens Richtung zu laufen und den Weg durch das Labyrinth aus Fluren und unfertigen Wohnungen zu suchen, kamen ihm die zwei Soldaten entgegen, die für die Deckung zuständig waren. Der Totenläufer musste sie kontaktiert haben. Sie sahen ihn und reagierten blitzschnell, doch Tom war schneller. Er schlug einen Haken und wechselte in einen Raum links von sich. Schüsse echoten durch den Rohbau. Keine Kugel traf ihn, aber es war knapp.

      Fluchen von einem der Soldaten. Sie hatten ihm den Weg abgeschnitten. Sollte er Schutz suchen und in der Defensive bleiben, bis Jay mit seinem Team im Rohbau ankam, oder auf den Hinterhof flüchten, wo er eine laufende Zielscheibe war? Ihm blieben nicht viele Optionen. Er musste es schaffen, niemals endete er als Leiche vor den Füßen eines Mannes, dessen Seele rabenschwarz war.

      X

      Es war eine absolute Kurzschlussreaktion. Rina hörte die Worte des Rotfuchses und etwas in ihr änderte sich schlagartig. Tom im Notausgang. Ihm auf den Fersen: der vermeintliche Totenläufer. Zwei Soldaten auf dem Weg zu ihm. Nicht sicher, ob er es schaffte. Sie mussten ihm helfen, hatten jedoch nur eingeschränkte Möglichkeiten, denn niemand wusste, in welchem Teil des Gebäudes sich die anderen beiden Soldaten befanden. Ob sie aus dem Obergeschoss kamen oder jene waren, die unten die Lage kontrolliert hatten. Als dann unweit von ihnen entfernt ein Soldaten-Duo in Position ging und sie in Schach hielt, wurde ihr eines klar: Er würde sterben und sie mit all den Vorwürfen zurücklassen, die durch ihren Kopf geisterten. Die Zeit in der kleinen Wohnung, die Nähe, die sie Viktor gegenüber empfunden hatte, all die Momente in ständiger Sorge, entdeckt zu werden und das zerbrechliche Gefühl, irgendwo dazuzugehören – mit dem Tod des Soldaten wäre das vergessen. Genauso wie bei den Malen davor. Sie brauchte ihn, musste ihn zur Rede stellen und seinen Geist zerstören, damit er lernte, wie schmerzhaft es war, jeden Einzelnen sterben zu sehen.

      Deshalb tat sie es, entgegen aller Vernunft und im Widerspruch zu ihrem panischen Überlebensinstinkt. Sie trennte sich von der Gruppe, unbemerkt, weil sie es gewohnt war, lautlos durch die Welt zu schleichen.

      Leichtfüßig wie eine Katze streunte sie durch die Gänge, bis sie einen Raum erreichte, von dessen Fenster aus sie in den Hinterhof sehen konnte. Der Nebel behinderte die Sicht, aber sie entdeckte einige Gestalten, die zügig näher kamen. Der Soldat musste dort draußen sein und die SDF war ihm bedrohlich dicht auf den Fersen.

      Sie duckte sich unter das Fenster und lauschte. Die Zeit verstrich. Jede Sekunde konnte die letzte sein. Angst kreischte in ihrem Körper, ihre Finger waren eisig.

      Dann sah sie erneut über die Fensterkante hinweg auf den Hof. Scheu wie ein in die Enge getriebenes Tier. Und tatsächlich erkannte sie eine Person mit der Kleidung eines Rebellen. Ihre Finger krallten sich um den Stoff ihrer Hose. Hinter ihm waren zwei SDF Männer und weiter entfernt ein dritter. Sie hatten sich aufgeteilt, kreisten ihn ein und wollten verhindern, dass er über den Häuserdurchgang zur Seitengasse gelangte.

      Sie musste sich auf die Männer konzentrieren. Die Entfernung stellte ein Problem dar, aber es war nicht unmöglich. Zuerst der Soldat vorn. Ihr Geist öffnete sich und zahllose wirre Gedanken prasselten auf sie ein. Ein Stich raste durch ihren Kopf und ließ sie erschauern. Ihre Lippen bewegten sich unruhig. Sortieren, sortieren, sie musste das Chaos sortieren. Dann fand sie einen Gedanken und packte ihn mit aller Kraft. Er war dem Unterbewusstsein des Soldaten entsprungen und so belanglos, dass er vielleicht nicht stark genug war, aber sie versuchte es. Ließ ihn wachsen, damit er eine klare Form annahm und gab ihm dem Mann zurück. Abrupt blieb er stehen, drehte sich in die entgegengesetzte Richtung und sah zum Himmel. Die Waffe glitt aus seinen Händen. Wieso hatte er heute Morgen eigentlich keinen Kaffee getrunken? Kaffee, ja, den sollte er sich jetzt gönnen. Im Schlenderschritt lief er in Richtung Rohbau und vergaß seinen Einsatz.

      Nun der Zweite. Als sie sich seinen Gedanken näherte, schlug ihr Schwärze entgegen und sie krümmte sich vor Schmerz. Aus der Übung. Sie war aus der Übung. Doch sie ließ nicht nach, entdeckte, verwarf, spürte, verwarf, bis sie etwas Nützliches fand und diesen Gedanken mit aller Macht in den Vordergrund rückte. Es war ein hässlicher Gedanke, einer, den sie so nicht hatte finden wollen. Auch er blieb stehen, sah sich nicht um, lockerte nur seine Haltung und tat das, worüber er seit Monaten nachgedacht hatte aus einem Impuls heraus. Rinas Stimme flüsterte ihm zu, es sei in Ordnung, er bräuchte sich nicht schämen. Niemand wartete auf ihn. Er richtete die Waffe auf sich selbst und drückte ab.

      Rina wollte auch den dritten Soldaten. Sie versuchte es, doch erreichte ihn nicht. Zu erschöpft, zu sehr überanstrengt. Ihr war bitterlich kalt, so als hätte man alles Leben aus ihr herausgezogen. Kalt. Nur noch kalt und erschöpft. So stark durfte sie keinen Einfluss nehmen, das war gefährlich. Aber was hätte sie tun sollen? Was hätte sie anderes tun sollen?

      X

      Tom flüchtete über den Hinterhof, indem er zwischen den Baumaterialien Slalom lief. Er ließ das Ziel nicht aus den Augen: die Seitengasse hinter dem Rohbau, wo Jay und sein Team auf ihn warteten. Es waren nur wenige Meter, die er zum größten Teil mit einem wendigen Laufmanöver hinter sich bringen konnte.

      Ein Knall in unmittelbarer Nähe und sofort raste