Totenläufer. Mika M. Krüger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mika M. Krüger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738090222
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hat er mich laufen lassen?«

      Rina sah die Frau an, als könne sie ihr eine Antwort geben. Doch der Einzige, der diese Frage beantworten konnte, war der Soldat selbst.

      »Ich weiß, es ist schwer, aber versuch dich noch einmal zu konzentrieren. Der Soldat, hattest du den Eindruck, dass er dich hinters Licht führen wollte?«

      »Wieso sollte er das tun?«

      »Um herauszufinden, wo wir unser Versteck haben. Die Stadtverwaltung weiß, dass wir am Südmarkt sind, aber nicht, wo unser Zugang ist. Das U-Bahnnetz ist weit verzweigt und nicht beleuchtet. Sie riskieren keinen SDF-Einsatz, wenn sie nicht genau wissen, an welcher Stelle ihr Ziel liegt. Also, hattest du den Eindruck, dass er dich laufen lassen hat, um dir später zu folgen?«

      »Nein«, antwortete sie sofort. »Er, er hat mich nicht benutzt.« Dabei war sie sich in Wirklichkeit gar nicht sicher. Sie war gut darin, an dem Gesicht und den Bewegungen eines Menschen zu erkennen, ob er eine Bedrohung war oder nicht, und sie täuschte sich nie. Der Soldat jedoch war widersinnig gewesen, so als kämpften in ihm zwei gegensätzliche Pole miteinander, aber doch nicht, weil er sie betrügen wollte. Das konnte nicht sein.

      »Wie gesagt, Caren, wir haben kein Leck«, wiederholte der Mann, woraufhin die Frau entnervt seufzte.

      »Dein Vertrauen in allen Ehren Jay, aber es ist eine Möglichkeit, die wir nicht außer Acht lassen dürfen. Wir sollten zumindest überprüfen, ob vor unserer Tür jemand lauert oder Rina verwanzt ist.«

      »Meinetwegen. Aber ich garantiere dir, wir werden nichts finden. Wenn du einen Moment scharf nachdenkst, weißt du, wer ihr den Satz gesagt hat.«

      Die Frau fixierte ihn, dann drängte sich ihr eine Erkenntnis auf.

      »Niemals. Das ist absolut unmöglich. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Tom …«

      »… was? Dass er zu so etwas nicht fähig ist? Unterschätz ihn nicht. Er ist alles andere als nur ein guter Schauspieler. Es passt zu ihm. Es passt wie die Faust aufs Auge. Aber gut, schauen wir erstmal, ob du Recht hast. Der Sicherheitscheck ist vorhin ja schon gelaufen, also bringst du sie am besten ins Technikzimmer.«

      Der Mann stand auf, zog aus seiner Tasche eine Schachtel Zigaretten, klopfte eine heraus und steckte sie sich zwischen die Lippen. Als er weitersprach, nuschelte er.

      »Caren ist deine direkte Ansprechpartnerin und mich wirst du hoffentlich nicht allzu oft sehen«, sagte er, holte eine Streichholzschachtel hervor und zündete sich die Zigarette an. »Ich bin immer ein schlechtes Omen.«

      Er schüttelte das Streichholz aus, zog einmal an der Zigarette und verließ das Zimmer ohne ein weiteres Wort.

      »Was hat er gemeint?«, fragte Rina und die Frau stemmte die Arme in die Seite.

      »Er denkt, es war einer von uns, der seit ein paar Monaten bei der SDF ist, um Informationen zu sammeln. Ein Schleuser. An sich ist er nicht zuständig für Einsätze gegen Lorca, aber es könnte sein, dass sie ihn dazu abkommandiert haben.« Sie machte eine kurze Pause und fügte hinzu: »Wenn das so ist, tut es mir sehr leid.«

      Unweigerlich kehrten ihre Gedanken zurück zu dem Soldaten. Er war also ein Schleuser der Rebellen. Jemand, der glaubte, die richtigen Dinge zu tun, obwohl er das Leben ihrer Freunde gestohlen hatte. Für sie war er nicht mehr als ein Heuchler.

      Tom hatte alles perfekt geplant. Der Köder war so gut wie fertig, neben ihm der Barhocker frei und er selbst darauf eingestellt, sich an jede erdenkliche Situation anzupassen. Er war bereit, sein Täuschungsmanöver auszuführen. Es fehlte nur noch seine Zielperson, die laut Informant pünktlich nach Einsetzen der Nachtsperre auftauchen sollte.

      Der Barmann in der verqualmten Kneipe Hintertüren schenkte einem Kerl Klaren ins Glas, den dieser sofort runterspülte. Die beiden unterhielten sich seit einigen Minuten über die Ungerechtigkeit von vorgegebenen Pflichten in Red-Mon-Stadt. Dabei berichtete der Betrunkene lallend von seinem Job auf den Gemüseinseln außerhalb der Stadt. Es ginge da nicht um echte Landwirtschaft, sondern einzig und allein um Zahlen. Luftfeuchtigkeit, Temperaturschwankungen, Wachstumsrate, Röte von Tomaten. Alles musste ständig geprüft werden, da sonst das Essen der Stadtbewohner einging.

      »Eine sowas von langweilige Aufgabe«, lamentierte er und fügte hinzu, dass sein Antrag auf Änderung seines Nutzens mit einer fadenscheinigen Begründung abgelehnt worden war.

      »Würd’ lieber hier in dem Schuppen arbeiten«, sagte er, »aber das kann sich ja keiner aussuchen.«

      Die Spitze von Toms Kugelschreiber flog über das Papier, während er zuhörte. Seine Zeichnung war ihm heute nicht recht gelungen, aber sie erfüllte ihren Zweck. Eine künstlerische Meisterleistung konnte von ihm eh niemand mehr erwarten. Er war übermüdet und hatte seit Tagen nicht richtig geschlafen, da er entweder seinem Scheinjob nachging oder als Spitzel agierte. Konzentrationsmangel war da nur eine von vielen unangenehmen Begleiterscheinungen. Nicht die besten Voraussetzungen für einen Offensivschlag, aber er würde das Beste daraus machen.

      Seine Zielperson ließ sich ungewöhnlich viel Zeit. Inzwischen war es weit nach Mitternacht. Diese Änderung konnte alles und nichts bedeuten. Der Informant hatte sich vertan, die Bespitzelung war aufgeflogen, sein Ziel war spontan zu einem Noteinsatz gerufen worden, verletzt oder gar tot.

      Tom wollte nicht vom Schlimmsten ausgehen, allerdings wusste er, dass sein Ziel viel Wert auf Routinen legte. Wenn er die Kneipe besuchte, was nur alle paar Wochen passierte, bestellte er immer zwei Tequila, setzte sich immer an die Bar, blieb höchstens eine Stunde und suchte sich stets einen neuen Gesprächspartner. Hatte man ihn also enttarnt? Nein, dazu war er zu vorsichtig gewesen, war anfangs unregelmäßig aufgetaucht, dann regelmäßiger und nun ein Stammgast. Der Barkeeper und einige der versifften Kunden begrüßten ihn mit einem Nicken und kannten seinen Namen. Er war einer von ihnen. Und wäre er tatsächlich aufgeflogen, säße er jetzt wohl nicht mehr hier, sondern in einer Zelle des Kuppelbaus Safe City, wo jeder landete, der seinen Nutzen verloren hatte. Aller Wahrscheinlichkeit nach war seinem Ziel etwas dazwischen gekommen. Vermutlich ein Einsatz oder ein herumstreunender Lorca, der ihm zufällig begegnet war. Er hoffte es nicht, denn ein solches Aufeinandertreffen endete für einen Lorca tödlich.

      Kalte Luft zog durch die Kneipe und als Tom aufsah, erkannte er den Mann mit dunklem Filzmantel in altmodischem Schnitt sofort. An ihm hafteten die Abgeklärtheit eines Soldaten und die kalte Berechnung eines Auftragsmörders. Seine Schritte waren konzentriert und durchdacht, das Gesicht zu weich für jemanden wie ihn, aber seine Augen durchdringend. Nichts an ihm wirkte überflüssig. Alles hatte seinen Platz und seine Berechtigung. Er war es, der Totenläufer. Jener Mann, von dem niemand sonst wusste, wie er tatsächlich aussah, weil die Verwaltung es streng geheim hielt.

      Sein Blick streifte über die Köpfe der Gäste und Tom wandte sich seiner Zeichnung zu. ›Komm schon‹, flüsterte er in Gedanken. ›Du siehst, was ich hier mache. Ich bin interessant. Meine Zeichnung hat eine Geschichte zu erzählen und auf die stehst du doch.‹

      Der Totenläufer ging um die Bar herum, lief an einigen Männern vorbei, die volltrunken auf den Barhockern saßen, passierte leere Plätze. Dann blieb er stehen. Direkt hinter Tom. Der Köder. Tom zeichnete. Seine Finger zitterten nicht. Die Striche waren klar und gerade. Und das, obwohl er innerlich kochte.

      ›Setz dich‹, rief er dem Totenläufer in Gedanken zu, ›setz dich!‹

      Für einen grauenvoll langen Augenblick war Tom überzeugt, dass der Totenläufer weitergehen und neben dem alten Kauz am anderen Ende der Bar Platz nehmen würde. Weil alte Menschen bessere Geschichten kannten. Das brachte ihre Erfahrung mit sich. Dann setzte er sich doch.

      Innerlich beglückwünschte sich Tom für seinen Schachzug und sah den König schon fallen. Nach Wochen, nein Monaten war er dem Totenläufer nicht nur auf der Spur. Nein, sie saßen nebeneinander und Tom bekam die Chance, herauszufinden, mit was für einer Person die REKA es zu tun hatte. Es war die Gelegenheit, ihn aus der Reserve zu locken, ihn einzuschätzen, ihn zu beschnuppern und daraus Rückschlüsse