Totenläufer. Mika M. Krüger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mika M. Krüger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738090222
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Kontrolle.

      »Zwei Tequila«, hörte er den Totenläufer sagen. Geliebte, bösartige Routine. Soweit so gut.

      Die Sekunden rasten und Toms Stift flog über das Papier. Hier fehlte ein Schatten in den Haaren, da ein Detail im Gesicht. Er bemerkte, dass er beobachtet wurde. Ein gutes Zeichen.

      Als die Getränke kamen, leerte der Totenläufer seinen Tequila in einem Schluck. Nicht zögern, sofort handeln. Das passte zu ihm.

      Tom spürte die Ungeduld in sich kratzen wie eine eingesperrte Katze an einer Wand. Am liebsten hätte er sofort das Gespräch begonnen. Aber so funktionierte das nicht. Der Totenläufer musste ihn ansprechen, nur so war er nicht verdächtig. Deshalb verdeckte er die Hälfte der Zeichnung mit der linken Hand. Gerade so, dass sein Ziel das Gesicht einer jungen Frau erahnen konnte, sich aber nicht hundertprozentig sicher war, was für ein Bild entstand. Das erzeugte Spannung, weckte die Neugierde und brachte ihn womöglich zum Reden. Es dauerte eine Weile, ehe der Totenläufer die Initiative ergriff, doch Tom behielt Recht.

      »Bist du Künstler?«, fragte der Mann neben ihm beiläufig.

      Tom stutze, drehte sich zu ihm und fragte, als sei er aus einer Trance gerissen worden: »Ähm … hast du was gesagt?«

      In den Augen des Mannes sah er Unruhe, obwohl seine Miene diese verbarg. Ein zaghaftes Lächeln spielte um seine Lippen. Es war nicht so, als ob er sich über Tom lustig machte. Im Gegenteil, es strahlte Mitgefühl aus. Mitgefühl. Was für ein Wort in Zusammenhang mit dieser Person.

      »Ich habe nur gefragt, ob du ein Künstler bist? Man sieht in Red-Mon-Stadt nicht oft jemanden zeichnen.«

      Tom fragte sich, ob er das aus der Perspektive des SDF-Soldaten sagte, der sichergehen wollte, dass sich alle an die Spielregeln hielten. Kunst hatte keinen konkreten Nutzen, keinen greifbaren Wert. Sie war nicht verboten, aber nur eine unliebsame Randerscheinung.

      »Ich, Künstler? Nein, ich … na ja, ich zeichne einfach manchmal.«

      »Hm, verstehe«, sagte der Totenläufer. »Dafür ist es ziemlich gut. Kann ich es sehen?«

      »Na ja, es ist wirklich …«

      »Ich bin kein Kritiker, keine Sorge. Es interessiert mich nur.«

      Wieder dieses einnehmende Lächeln. Tom spürte Sympathie und die ging einher mit brennender Wut. Wenn er alle Menschen so um den Finger wickelte, war es kein Wunder, wieso er der Liebling der Stadtverwaltung war. Wie gern wäre Tom aufgesprungen, hätte den Revolver aus seinem Schuh gezogen und ihm eine Kugel in die Brust gejagt. Konzentrieren. Er musste sich konzentrieren. Es ging nicht um ihn und seine Abneigung, sondern um das große Ziel. Sein Tod wäre an dieser Stelle nur verschwendet.

      Deshalb nahm Tom das Papier mit dem Portrait und gab es dem Totenläufer. Der betrachtete es eine Weile im Stillen.

      »Sie sieht sehr lebendig aus«, sagte er dann und gab ihm die Zeichnung zurück. »Ist das eine Bekannte von dir?«

      »Eher eine sehr gute Freundin, wenn du weißt, was ich meine.« Er sah den Totenläufer an. Der nickte, als habe er verstanden, und wartete darauf, dass Tom fortfuhr. »Also heute ist mir da jemand über den Weg gelaufen, der ihr irgendwie ähnlichsah. Da habe ich mich plötzlich an sie erinnert. War alles wieder da. Die Zeit, die wir zusammen hatten. Gute Sachen und schlechte, aber meistens die guten. Schon merkwürdig.«

      »Gute Erinnerungen sterben nie, was?«

      Tom rang sich ein trauriges Lächeln ab, von dem er hoffte, es wirke ehrlich.

      »Nein, das tun sie wirklich nicht. Manchmal denke ich, dass sie direkt vor mir steht. Ich kann sogar ihre Bewegungen spüren. Sie ist da, aber eigentlich nicht. Es ist ja auch nicht möglich, dass sie mir hier begegnet. Dafür ist sie viel zu weit weg.«

      Darüber dachte der Totenläufer nach. Zwischen seinen Händen drehte er das leere Tequila Glas. Sein zweites stand unberührt daneben.

      »Sie ist also auf dem Festland?«, fragte er nach einer gewissen Zeit. Tom betrachtete die Zeichnung, so als würde er an eine längst vergessene Zeit zurückdenken.

      »Wenn sie auf dem Festland wäre, dann wäre sie nah. Wirklich sehr nah.« Er machte eine Pause, rang mit den Worten. »Sie ist tot.«

      »Tot?«, fragte der Totenläufer. Seine Lippen waren leicht geöffnet, die Augen wach und darin las Tom Überraschung. Zum Teufel, er wusste ja, dass der Mann sich gut verstellen konnte, aber dass er ihm so dreist den Geschockten vorspielte? Nun gut, wenn er das Schauspiel wollte, dann bekam er es auch.

      »Ja, sie wurde umgebracht. Das ist schon einige Jahr her und der Täter ist nicht gefasst worden. Sie hat damals auf dem Festland gelebt, wollte aber nach Red-Mon-Stadt einwandern. Verrückte Welt sag ich dir. Sie lag einfach ausgeblutet in einer Straße. Abgelegt wie ein Kleidungsstück. Ihr Bruder hat es mir erzählt. Ich bin nur froh, dass ich dieses Bild nicht sehen musste. Es hätte mich vermutlich auch ins Grab gebracht.« Tom kaute auf seiner Lippe, betrachtete das leere Schnapsglas vor sich, so als läge darin der Schatten seiner toten Freundin. Die Frau, die tatsächlich auf der Zeichnung zu sehen war, saß augenblicklich mit seinem besten Freund im Kaninchenbau der REKA und erfreute sich bester Gesundheit. Ihr Name war Caren. Eine Frau mit feuerroten Haaren und einem unverbesserlichen Sinn für Gerechtigkeit.

      »Es ist eine verrückte Welt, da stimme ich dir zu. Es passieren zu viele Dinge, die wir uns nicht erklären können. Jemanden zu verlieren, der einem viel bedeutet ist unerträglich. Tut mir leid, um deinen Verlust.«

      Tom sah den Mörder neben sich an, suchte nach einer Spur von Falschheit, doch es zeichnete sich ehrliche Bestürzung auf seiner Miene ab.

      »Danke«, brachte er erstickt heraus.

      Der Totenläufer hob seinen Arm, winkte den Barkeeper heran und bestellte zwei Klare. Er legte Tom eine Hand auf den Rücken und sagte: »Lass uns auf deine Freundin trinken. Keiner sollte ohne Grund sterben.«

      Es widerte ihn an. Die Berührung, die Freundlichkeit. Er musste sich zusammenreißen.

      »Danke, das weiß ich zu schätzen.«

      Gemeinsam stießen sie auf das Leben an und tranken auf ex. Der Alkohol floss durch Toms Glieder und wärmte ihn angenehm. Wenigstens etwas Normalität. Auf die Wirkung von Schnaps konnte man sich immer verlassen.

      Tom klopfte sich auf die Brust und hustete kurz, so als kämpfe er mit dem Geschmack des Alkohols.

      »Verträgst wohl nichts, was?«

      »Nein, nicht wirklich. Ich komm so oft hierher, aber der Alkohol und ich, wir haben ein merkwürdiges Verhältnis …«

      »Ist nicht jeder gleich.« Er machte eine Pause und fügte hinzu: »Und du bist wirklich öfter hier? Hab dich noch nie gesehen.«

      »Ja, ich sitze meist hinten in der Ecke, aber heute war es irgendwie anders.«

      »Hm«, sagte der Totenläufer, »heute solltest du mich treffen.« Tom versuchte zu deuten, was er damit sagen wollte. Glaubte er an Schicksal? War das der dezente Hinweis darauf, dass er ihn durchschaut hatte? Oder doch nur eine Floskel?

      »Wahrscheinlich«, sagte Tom und entschied, trotz Unsicherheiten einen Vorstoß zu wagen. Irgendwann musste er ja den Spieß umdrehen. »Und, was verschlägt dich in diese Kneipe?«, fragte er. »Doch sicher nicht eine vergangene Liebe?«

      Der Totenläufer fasste in seine Manteltasche und zog eine Münze heraus, die nach einem Einzelstück aussah. Auf die Vorderseite war ein Falke geprägt. Nichts, was man in Red-Mon-Stadt normalerweise zu Gesicht bekam. Er hielt sie ins Licht und meinte: »Die habe ich heute gefunden. Jemand hat sie nach Red-Mon-Stadt geschmuggelt. Ich wollte der Frage nachgehen, wer sie wohl hierher gebracht hat. Dazu lasse ich gern meine Gedanken baumeln.«

      »Dann bist du sowas wie ein Hygienepolizist?«

      Der Totenläufer lachte bitter. »Nein, mein Job ist komplizierter. Das ist eher ein Hobby. Ich sammele Geschichten. So wie deine. Wenn mich etwas interessiert, dann frage ich nach und manchmal