Totenläufer. Mika M. Krüger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mika M. Krüger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738090222
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Diese Person MUSSTE Neel Talwar sein. Doch Toms Instinkt warnte ihn. Irgendetwas war faul. Die Art, wie er dastand, hatte eine ungewöhnliche Lässigkeit, die Tom von ihm nicht kannte. Sein Ziel war sonst hochkonzentriert und stets darauf bedacht, keine unnötigen Bewegungen zu machen. Locker hatte er ihn nie erlebt.

      Eine Nachricht ging auf dem Silbertab ein.

      »Schleuser T, bitte um Bestätigung. Zielperson im rechten Flur?«

      Tom biss sich beinahe auf die Zunge. Er konnte es nicht hundertprozentig sagen. Vermutlich war er das. Vermutlich, aber vielleicht auch nicht.

      »Negativ. Keine Garantie«, schrieb er.

      Er klickte den Bildschirm weg. Die Zeit lief ihm davon. Ein Zweierteam war bereits in der Mitte des Flurs angelangt. Sie suchten nach einem Lorca, würden aber keinen finden. Und wenn ihnen das klar wurde, hatten sie ein Problem. Ein Lorcaalarm ist zu hundert Prozent korrekt, das lernte man als ersten Grundsatz in der SDF. Trat der unwahrscheinliche Fall ein, dass ein Alarm fälschlich ausgelöst wurde, konnte das nur eine Ursache haben: Rebellen.

      Die nächste Nachricht erreichte ihn. Sie enthielt ein Foto mit der Detailaufnahme des Kommandogebers. Wenig Farbe, etwas verschwommen. Tom runzelte die Stirn. Dachte nach. Er wusste so viel von Neel Talwar. Welche Waffe er bevorzugt wählte, dass er gegen jede Soldatenehre Dinge im Alleingang erledigte, dass er abends, wenn er seine Wohnung verließ und seine Schicht antrat, zuerst durch die Geschäftsstraßen ging, um sich ein Bier zu gönnen. Aber das alles hatte hier keine Bedeutung.

      Ein nächstes Bild, der Kommandoführer frontal. Er sah direkt in die Kamera. Starrer Blick, aggressiv und zielgerichtet.

      Tom traf die Erkenntnis wie ein Schlag. Dieser Mann war nicht der Totenläufer. Keinesfalls. Er hatte die falschen Augen. Sie waren zu länglich und unter dem linken Auge thronte ein Muttermal, das er nie bei Neel Talwar gesehen hatte.

      »Negativ. Er ist es nicht«, tippte Tom in Sekunden. Sofort ließ er sich die unteren Kamerabilder auf das Display übertragen. Die zwei Soldaten dort waren gut, aber nicht perfekt. Sie hielten die Waffe falsch, nicht angespannt genug. Außerdem stand der eine krumm da. Er prüfte die beiden Übrigen im linken Flur. Einer hatte helle Haare, der nächste O-Beine. Nur dezent, aber für Tom eindeutig zu viel. Keiner von ihnen passte. Oder war er nur nicht in der Lage …? Nein, das war ausgeschlossen. Sein Ziel konnte er im Schlaf ausmachen. IM SCHLAF!

      Er vergrößerte den Ausschnitt des ersten Fotos und kontrollierte die Zahl auf dem grauen Abzeichen. 203, die Einheit des Todes. Er MUSSTE unter ihnen sein. Sich irgendwie verstecken oder … Plötzlich wusste er es. Eine Stimme in seinem Kopf schrie ihm die Antwort ins Ohr. Wie hatte er nur so blind sein können? Seine Finger schnellten über das Display. Buchstabe für Buchstabe. Zeichen für Zeichen.

      Drei kurze Schüsse in automatischer Feuerfolge zerfetzten die Stille und Tom sah auf. Sein Mund war trocken, der Herzschlag stockte.

      »Verdammt«, flüsterte er und schickte die Nachricht ab. Zu spät. Er war zu spät.

      X

      Als die Schüsse durch den Nebel jagten, zuckte Rina zusammen. Mehr aus einem inneren Reflex heraus als vor Schreck. Ein Schusswechsel in ihrer Nähe bedeutete für sie gewöhnlich eine unmittelbare Bedrohung. Jemand, der auf sie schoss oder auf ihre Freunde. Heute war das anders. Sie lag sicher auf dem Dach eines Lagerhauses, umgeben von bewaffneten Rebellen.

      Trotzdem beschwor das Knallen eine dunkle Vorahnung herauf. Schüsse waren außerplanmäßig, weil sie zu viel Aufmerksamkeit auf sich zogen. So hatte es der Greif bei der Vorbesprechung formuliert. Wer schoss, verriet seine Position und das hieß, alle SDF-Soldaten wären in kürzester Zeit bei einem. Das wiederum zöge den sicheren Tod nach sich.

      Rinas Blick schnellte zum Rotfuchs. Sie starrte seit einigen Minuten wie verbissen auf den Rohbau und hielt ihre Waffe fest im Griff. Nun blinkte auf der Vorrichtung um ihren Arm das Signal für eine eingegangene Nachricht. Der Rotfuchs bemerkte es, las und ihre Augen weiteten sich. Ein Keim des Unglaubens spross darin.

      »Was ist passiert?«, fragte einer aus dem Team.

      »Es sind sieben Soldaten, keine sechs«, sagte sie und ihre Stimme klang wie Glas. Gerade noch fest genug, um nicht zu zerspringen. »Er ist durch den Nebeneingang gekommen.«

      »Wer? Der Totenläufer?«

      »Ja.«

      »Hat’s wen von uns erwischt?«

      »Kann ich nicht sagen. Am Nebeneingang gibt es keine Kameras.« Sie machte eine Pause, dachte nach. Erneut eine Nachricht. Sie las und tippte. Es ging kurz hin und her. Vermutlich mit dem Greif.

      Rina versuchte, etwas zu lesen, doch die Buchstaben waren zu klein. Sie wurde unruhig. Hatten sie ihn erwischt? Tom, den Soldaten? Konnte es sein, dass er bereits tot war? Dann die nächsten Schüsse. Sofort war die Aufmerksamkeit wieder beim Rohbau. Im Nebelschleier war nicht zu erkennen, was drinnen vor sich ging.

      Der Rotfuchs war versteinert. Das gelbe Licht leuchtete wieder. Als sie las, war ihre Miene nicht zu deuten.

      »Wir greifen ein und geben Feuerschutz«, sagte sie letztendlich und hockte sich hin. »Ich gehe vor, ihr gebt mir Deckung. Ist das soweit klar?«

      Die vier Rebellen im Team nickten. Nur Rina spürte, wie sich jeder Muskel in ihrem Körper verkrampfte. In ihr wuchs der unbändige Drang, schnellstmöglich zu verschwinden. Wie vor ein paar Tagen, als sie alle zurückgelassen hatte. Einfach weg und nicht darüber nachdenken, was hätte oder könnte. Immer nach vorn sprinten. Nur nach vorn.

      »Rina! Hörst du mir zu?« Hatte der Rotfuchs etwas gesagt? »Es wird nichts passieren. Du hältst dich bedeckt und machst nur das, was ich sage, okay? Vergiss den Lorcaism.«

      Rina nickte und die Angst schrumpfte zusammen. Die Rebellen waren bewaffnet und keine Opfer. Bei ihnen war sie geschützt. Es würde schon nichts passieren. Bestimmt nicht.

      Doch als sie sich aufmachten, das Dach zu verlassen, purzelte Rina eine Frage aus dem Mund, die sie nicht zurückhalten konnte: »Ist er tot? Der Schleuser? Haben sie ihn erwischt?«

      Zuerst dachte sie, der Rotfuchs würde sie ignorieren. Aus ihrer Sicht war es egal, ob Tom oder ein anderer Rebell gefallen war. Für sie waren alle gleichermaßen bedeutsam, gleichermaßen Freunde.

      »Er war es nicht«, sagte sie. »Und jetzt los.«

      X

      Der Hinterhalt hatte zwei seiner Leute das Leben gekostet. Wie der Totenläufer sie in den unzähligen Räumen hatte ausfindig machen können, war Tom nicht klar. Geräusche? Wärmebilder? Intuition? Er war besser als gedacht. Tom hätte ihn nicht unterschätzen dürfen und wissen müssen, dass auch Geheimdokumente fehlerhafte Informationen enthielten. Zum Beispiel über die korrekte Anzahl der eingesetzten Soldaten. Womöglich waren die Daten auch einfach nur veraltet. Noch dazu wusste er doch, dass Neel Talwar Dinge im Alleingang durchzog.

      Egal, er durfte sich nicht ablenken lassen. Der Totenläufer war einen Atemhauch von ihm entfernt. Es trennte sie nur eine graue Einbauwand, hinter der sich Tom verbarg. Mit einem Soldaten aus seiner Einheit diskutierte er die Lage.

      Die unverkennbar ruhige Stimme seines Ziels weckte erneut in ihm den Wunsch, den Moment zu nutzen und ihm einfach das Licht auszuknipsen. Jetzt und hier, so wie er es mit seinen Opfern tat. Ein Schuss, eine Kugel und es wäre vorbei. Kein Hahn krähte mehr nach Neel Talwar, doch Tom wusste sehr genau, dass die Stadtverwaltung schnell Ersatz fand. Nicht umsonst hielten sie die Identität ihres Mannes streng unter Verschluss. Er war so anonym, wie er angesichts seiner Berühmtheit sein konnte, und die REKA brauchte ihn lebend.

      »Sie ist gut ausgerüstet«, sagte der Totenläufer und betrachtete allem Anschein nach die Frau aus seinem Team. »Waffe und Schutzweste sind von der Hygienepolizei. Das schräge H ist noch deutlich zu sehen. Sie bedienen sich also inzwischen bei uns, anstatt sich auf Lieferungen vom Festland zu verlassen. Wir sollten die Augen offen halten. Es sind sicher nicht nur zwei.«

      »Rebellenschweine«, sagte der andere Soldat. »Ich warte auf den