Totenläufer. Mika M. Krüger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mika M. Krüger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738090222
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sowas nicht in die Vitrine stellen, aber sie bleiben einem im Gedächtnis. Erinnerungen sterben nicht, richtig?«

      Sympathie. Erneut. Es war nicht zu leugnen. Auch wenn dieser Mann keinen Respekt verdient hatte, etwas an ihm strahlte von innen heraus.

      »Das macht doch keinen Sinn«, sagte Tom. »Ich brauche Dinge, die ich anfassen kann.«

      Der Totenläufer stellte die Münze auf ihre Kante und stieß sie an, sodass sie sich im Kreis drehte. Sie tanzte auf der Platte. Im trüben Licht der Barbeleuchtung glitzerte das Silber.

      »Das ist der Fehler dieser Gesellschaft«, sagte der Totenläufer. »Wir sammeln Materielles, aber das, was wir nicht anfassen können, ist das, was wirklich Bedeutung hat. Freundschaften, Beziehungen, Vergangenes, Erinnerungen. Das macht uns aus.«

      »Und Taten«, rutschte Tom heraus. Der Totenläufer sah zu ihm. Ein glimmender Funken schlug sich durch seine Augen. »Ich meine, machen uns nicht auch Taten aus?«

      Die Münze schlingerte, verlor die Standhaftigkeit und hörte letztendlich auf zu kreisen.

      »Du hast recht. Taten machen uns aus. Aber nicht etwa das, was wir getan haben, sondern der Grund, weshalb wir es getan haben.«

      Er sprach im Wir, meinte jedoch sich selbst, das war unverkennbar. Welche Gründe konnte er haben, zu tun, was er tat? Geld? Rache? Hass?

      »Gründe sind doch nicht alles. Das Ergebnis zählt.«

      Der Totenläufer lachte und nahm die Münze zwischen die Finger.

      »Das sagen sie alle, aber ich denke, das ist ein Missverständnis. Frag dich selbst, ob es wichtig ist, dass sich die Münze dreht, wenn ich sie anstoße oder ob es nicht wichtiger ist, warum ich sie angestoßen habe. Weil ich mich langweile und bereits abschweife? Weil ich dir damit etwas zeigen wollte? Weil ich einfach Lust darauf hatte.«

      »Spielt das wirklich eine Rolle?«, fragte Tom. »Wenn ja, dann wäre meine Zeichnung nichts wert. Ich habe sie ja nur gezeichnet, weil ich gerade Lust darauf hatte.«

      »Guter Punkt, aber wer sagt denn, dass das kein guter Grund ist?«

      »Ist das irgendeine Philosophie? Klingt gewaltig danach.«

      »Nicht direkt. Es war lange Zeit der Grundsatz der Rechtsprechung. Ohne Motiv gibt es keine Täter. Aber Red-Mon-Stadt hat seine eigenen Regeln. Hier zählt allein der Nutzen einer Tat. Im Grunde das Ergebnis.« Der Totenläufer nahm seinen Tequila und trank ihn in einem Schluck aus. »Das wird uns allen noch das Genick brechen.« Er sagte es leise und mehr zu sich selbst. Dann holte er sein Portemonnaie aus der Manteltasche, zog einige Geldscheine hervor und legte sie auf die Kneipentheke.

      »Ich werde jetzt gehen, aber deine Drinks gehen auf mich. Tob dich aus.«

      Zu früh. Der Moment war vorbei und Tom hatte es nicht einmal bemerkt.

      »Du willst schon gehen?«, fragte er deshalb wie einstudiert.

      »Man soll gehen, wenn es am besten ist, sagt man doch. Unser Gespräch hat mich auf eine Idee gebracht. Und so eine Idee hat man nicht jeden Tag.«

      ›Noch nicht‹, kreischte eine Stimme in Toms Kopf. ›Du musst ihn stoppen.‹

      »Ich kann dich nicht überreden, noch eine Weile zu bleiben?«

      »Ich fürchte nicht.« Der Totenläufer reichte Tom die Hand und er ergriff sie automatisch. Sein Handschlag war fest, aber nicht erdrückend.

      »Es war ein gutes Gespräch. Wie war noch gleich dein Name?«

      »Glenn. Ich heiße Glenn«, sagte Tom und kam sich dumm vor.

      »Glenn also. Vielleicht kreuzen sich unsere Wege ja noch ein zweites Mal.«

      Der Totenläufer löste sich aus der Berührung, wandte sich ab. Toms Kehle wurde trocken. Es durfte nicht umsonst gewesen sein. Der ganze Aufwand und dann das? Er musste es probieren. Entweder oder.

      »Wie heißt du eigentlich?«

      Der Held Red-Mon-Stadts drehte sich um, sah ihn an, dachte nach. Namen wurden nur intern weitergegeben. SDF-Soldaten waren nur so lange geschützt, wie sie außerhalb der Einsätze anonym blieben. Er rang mit diesem Fakt und Tom konnte die abschmetternde Antwort bereits von seinen Lippen ablesen. Doch nicht zum ersten Mal an diesem Abend wurde er vom Gegenteil überrascht.

      »Neel«, sagte er. »Neel Talwar.«

      Dann verließ der Totenläufer die Kneipe und das Einzige, was zurückblieb, waren Tom und sein kalter Herzschlag. Er hatte ihn. Seinen Namen. Der Geruch des Sieges lag in der Luft, doch er hatte etwas Bitteres an sich, das ihm Sorgen bereitete. Irgendetwas an Neel Talwar war ganz und gar nicht so, wie es sein sollte.

      X

      Der Entschluss, dem Totenläufer zu folgen, kam spontan. Als Tom im schummrigen Licht der Bar seine Zeichnung betrachtete, die unruhigen Linien und das Schwarz der Striche, wurde ihm bewusst, dass er mehr wissen wollte. Über Neel Talwar, der vorgab, Interesse an Schicksalen zu haben und dennoch seiner Rolle als Schlächter der Kriminellen und Wahrer der Sicherheit nachkam. So einfach konnte er es nicht auf sich beruhen lassen. Deshalb packte er die Zeichnung ein und verließ die Bar übereilt. Diese spontane Entscheidung konnte ihn alles kosten. Er war nicht geübt darin, Beschattungen durchzuführen, besaß keine Genehmigung für die Nachtsperre und konnte nicht einmal sicher sagen, ob der Totenläufer von SDF-Soldaten geschützt wurde. Laut Plan sollte er in seine Wohnung zurückkehren und sofort Bericht erstatten. Keine Umschweife, keine Risiken. Und trotzdem, er musste mehr erfahren. Darin zeigte sich seine Schwäche. Wenn sich vor ihm ein Rätsel auftat, musste er es lösen, koste es, was es wolle.

      Als Tom auf die regennasse Straße trat, dehnte sich über ihm ein tiefschwarzer Himmel aus. Sternenlos und finster. Die schwache Nachtbeleuchtung reichte gerade, um sich in dem Labyrinth aus Straßen und Gassen nicht zu verlaufen. Kaum jemand war zu dieser Zeit unterwegs. Nur jene, die es darauf anlegten aufzufallen oder im Schutz der Stadtverwaltung standen. Red-Mon-Stadt glich einem Friedhof.

      Er sah sich um. Der Totenläufer konnte nicht weit gekommen sein. Entlang der Monorailstraßen war keine Bewegung auszumachen, doch auf der anderen Seite bemerkte er eine Person, die sich zügig in Richtung Zentrum bewegte. Das musste er sein.

      Tom schob einen Ärmel hoch und tippte auf einem Minicomputer, der um sein Handgelenk gewickelt war, Programmcodes ein. Dadurch bekam er temporär Zugang zu den Sicherheitsservern der Stadtverwaltung und konnte sich Wärmebilder der Umgebung auf dem Display anzeigen lassen. Die IT der REKA hatte mit diesem Entschlüsselungssystem ganze Arbeit geleistet. Ihm blieben zwanzig Minuten, ehe die Verbindung getrennt werden würde.

      Tom fixierte die orange-gelbe Silhouette des Totenläufers. Inzwischen strebte er in Richtung Osten und ließ das Kneipenviertel hinter sich.

      Zeit, sich in Bewegung zu setzen, sonst wäre sein Ziel außer Reichweite. Den Minicomputer in Sichthöhe, den die REKA Silbertab nannte, machte sich Tom auf, dem Totenläufer zu folgen. Sein Weg führte ihn am Vergnügungsbezirk Midtown vorbei. Ein Stadtteil, der zur Abendzeit überfüllt mit Menschen war, jetzt jedoch völlig verlassen vor ihm lag. Trotz eindrucksvoller Ausgestaltung wirkte er chaotisch. Reklametafeln, Verkaufsstände und Kneipen standen wahllos an den Straßenrändern und daneben ragten schwungvolle Bürohäuser in den Himmel hinauf. Jedes für sich ein Meisterwerk. Nach Midtown folgte der Wohnbezirk der Stadtverwalter. Hohe Wohnblöcke mit einfachen Fassaden ohne Schnörkel oder Balkon. Hastig gefertigt, da die Bevölkerungsdichte in der Stadt eine behelfsmäßige Architektur selbst bei den Führenden immer weiter förderte.

      Womöglich befand sich die Wohnung des Totenläufers in einem dieser Häuser und er war dorthin unterwegs. Beinahe jeder Soldat der Verwaltung wohnte hier. Er selbst hatte sein Domizil in der unmittelbaren Umgebung. Doch dann bog der Totenläufer unerwartet in Richtung Süden ab, folgte der Hauptstraße und erreichte das Industrieviertel, wo er plötzlich stehen blieb.

      Hinter einem Stützpfeiler versteckt, beobachtete Tom den Mann, der die Stadt verändert hatte. Er stand einige Meter entfernt am Brückengeländer