Totenläufer. Mika M. Krüger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mika M. Krüger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738090222
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dass der Totenläufer zur REKA kam, um für sie der Trumpf zu sein, den sie brauchten.

      »Verwaltungsuntreu«, dieses Wort tauchte vor seinem inneren Auge auf. Konnte es möglich sein, dass der Totenläufer genau das war? Er würde es prüfen müssen, um alle Zweifel auszuräumen, aber die Leiche ohne das Wissen seiner Vorgesetzten an einen anderen Ort zu bringen, das gehörte nicht zum Standard der SDF. Und mit einem ungehorsamen Soldaten ließ sich etwas anfangen. Tom musste schmunzeln. Das hochgehaltene Symbol der Sicherheit, und in Wirklichkeit war er nicht mehr als eine schlechte Zaubershow.

      »Neel Talwar«, flüsterte Tom. »Du hast verloren.«

      X

      Im Kaninchenbau der Rebellen fühlte sich Rina genauso fremd wie draußen auf der Straße. Sie war die Frau, die einen Angriff der SDF überlebt hatte und genauso behandelte man sie auch. Wie einen besonders interessanten Sonderling. Obwohl unter den Rebellen einige Lorca waren, galt ihr die ganze Aufmerksamkeit. Kaum ging sie unter Leute, wurde sie ausgefragt. Wie konntest du fliehen? Hast du dich gewehrt? Warum hast du so lange überlebt? Fragen, die auch in ihrem Kopf rotierten, doch sie kannte keine Antwort darauf und reagierte ausweichend oder gar nicht. Sie wollte nicht dazu gehören, denn die Gefahr war zu groß, dass sie all den Menschen erneut Lebewohl sagen musste. Deshalb blieb sie die meiste Zeit in dem Acht-Bett-Zimmer, das man ihr zugewiesen hatte. Dort war sie meist allein, denn tagsüber kamen die Mitglieder der REKA alltäglichen Aufgaben nach, versammelten sich in ihren Teams und besprachen die Ereignisse in Red-Mon-Stadt.

      Abends kehrten sie dann gemeinsam in die Zimmer zurück. Doch immer wenn Rina die Schritte ihrer Mitbewohner vernahm, drehte sie ihr Gesicht zur Wand, schloss die Augen und tat, als schlafe sie.

      Stunde um Stunde brachte sie hinter sich, abwechselnd heimgesucht von den Schreien ihrer Freunde und dem Geräusch einer abgefeuerten Kugel, die einen Körper traf. Manches Mal war es so laut, dass sie glaubte, taub zu werden.

      Wagte sie sich doch aus dem Zimmer, meist, um etwas zu essen, war sie wie ein Gespenst. Als geisterhafter Umriss wandelte sie durch die Gänge des Rebellenunterschlupfs, bewegte sich, blieb am Leben, existierte – irgendwie.

      In Wirklichkeit war sie jedoch an einem Ort, den sie nie wieder hatte betreten wollen. Sie kannte ihn aus der Zeit in den Hafenschächten. Damals, als die SDF ihre erste Gruppe ausgelöscht hatte, und von noch viel früher. Schon auf dem Festland, als sie noch ein Kind gewesen war, hatte sie sich dort eingesperrt. Es war ein Raum, in dem Sekunden wie Stunden waren und Stunden wie Tage. Dort lagerten die Gesichter der Toten, die sie verpackte und versuchte, an einer grauen Wand in eine Ordnung zu bringen. Manchmal gelang ihr das, doch meist fiel immer dann, wenn sie ein Gesicht ablegte, ein anderes erneut vom Himmel herunter und landete auf dem teerigen Untergrund. Diese Gesichter sahen sie an, formten mit den Lippen Hilferufe oder Vorwürfe. »Wieso du und nicht wir?« »Wieso wir und nicht du?« Sie arbeitete dort, schuftete, bekam keine Pause, blieb im klebrigen Boden hängen, stürzte, rappelte sich immer wieder auf, in der Hoffnung, alles zu Ende bringen zu können, bis sie so müde war, dass jeder Muskel schmerzte. Dann wollte sie nur noch weg. Zurück in die Welt, die sie zurückgelassen hatte. Doch das war nicht leicht.

      Dieses Mal musste sie es aus eigener Kraft schaffen und es gelang ihr nur, weil sie sich auf eine Sache vollständig konzentrierte: den Soldaten. Der Mann war ein Schleuser, jemand, der für die Rebellen arbeitete, Lorca schützen wollte, aber Unschuldige für ›die Sache‹ tötete. Nur ergab es denn Sinn, sich gegen die zu wenden, die nichts getan haben? Nein, das war unverzeihlich, scheinheilig und falsch. Er hätte ihnen helfen sollen. Ihnen allen. Seine Entscheidung hätte alles geändert. Nur einmal in die andere Richtung blicken, die Maschinenpistole auf die echten Feinde richten und ihnen das Licht ausknipsen. Wie konnte er nur so herzlos sein?

      Rinas Haut begann heftig zu jucken und ihre Zunge prickelte. Damit würde sie ihn nicht davonkommen lassen. Er konnte sich vielleicht einreden, dass er ihr geholfen und damit seine Taten rein gewaschen hatte, doch so einfach war es nicht. Sie würde einen seiner schwärzesten Gedanken aufgreifen und ihn wachsen lassen, bis er ihn in Verzweiflung stürzte. Sein Geist war vielleicht stur gewesen an jenem Abend, aber sie hatte schon Menschen beeinflusst, die glaubten, jedem überlegen zu sein. Sogar einer von der Stadtverwaltung war dabei gewesen. Der Soldat stellte kein Problem dar. Sie würde ihn zur Rechenschaft ziehen für das, was er getan hatte.

      Ihr kam die Frau mit den roten Haaren in den Sinn. Der Rotfuchs. Sie hatte ihr Unterstützung angeboten und ihr versprochen, da zu sein, sollte sie Fragen haben. Vielleicht war das nur eine Floskel gewesen, doch das spielte keine Rolle. Diese Frau hatte Kontakt zu dem Soldaten. Durch sie konnte sie ihn finden.

      Rina schloss die Tür zu dem dunklen Ort und seine Präsenz schrumpfte auf die Größe eines Sandkorns zusammen. Das Blut rauschte wieder durch ihren Körper, sie spürte die Luft in ihren Lungen und wusste, dass sie sich rächen wollte. Irgendwie. Egal, wie viel Überwindung es sie kosten würde.

      X

      Auf dem Flur war niemand zu sehen, als Rina das Zimmer verließ. Die Türen rechts und links vom Gang waren geschlossen und ein weißes Licht erhellte die Umgebung. Das Versteck der Rebellen war keine Höhle, die sie provisorisch ausgehoben und bewohnbar gemacht hatten, sondern ein unterirdisches Bürogebäude, in dem sie sich verschanzten. Es gab mehrere Etagen, die man über Treppen oder einen Fahrstuhl erreichen konnte. Alles war neu und klar strukturiert. Beinahe so, als sei sie in einem Verwaltungsgebäude von Ostend. Vielleicht gehörte dieser Teil zu einem der vielen Hochhäuser, die sich unauffällig in das Stadtbild einfügten, nur wieso sollte die Stadtplanung nichts von alldem mitbekommen? Wurden die Rebellen von einer einflussreichen Person gedeckt?

      Rina sah den Flur entlang. Ihre Fingerspitzen kribbelten und eine innere Unruhe klopfte in ihrer Brust. Sie musste zu den Aufzügen, wenn sie mit dem Rotfuchs sprechen wollte. Die lagen am anderen Ende des Ganges, in unbekanntem Terrain. Kein Grund, in Panik zu verfallen, hier im Kaninchenbau würde man ihr nicht auflauern und sie verletzten. Deshalb straffte sie ihren Rücken und ging in die Richtung, die sie erkunden musste. Schritt für Schritt ging sie voran und erreichte den Fahrstuhl, wo sie ungeduldig wartete.

      Als sich die metallenen Türen dann endlich öffneten, kamen zwei REKA-Mitglieder heraus. Sie unterhielten sich angeregt und bemerkten Rina nicht. Automatisch senkte sie den Blick, während sie sich unauffällig an ihnen vorbeistahl. Drinnen war ein Mann mit Brille, der auf einem Monotab tippte. Rasch drückte sie auf irgendeinen Etagenknopf, völlig egal wohin sie ging, an irgendeiner Stelle musste sie ja anfangen.

      Das Tippen stoppte.

      »Wo soll es hingehen?«, fragte der Mann.

      »Zu meiner Kontaktperson, der Frau mit den roten Haaren«, antwortete sie und sah flüchtig auf. Er nickte, als habe er verstanden, und wandte sich erneut dem Monotab zu. Lautlos setzte sich der Fahrstuhl in Bewegung. Das Schweigen fühlte sich an wie das Kratzen von Metall auf Metall.

      Eine Etage tiefer hielten sie und der Mann ging an ihr vorbei. Erleichterung nahm sie ein, dann blieb er in der Tür stehen und drehte sich zu ihr.

      »Caren ist im untersten Stockwerk bei einer Besprechung. Falls du sie wirklich suchst«, sagte er und betätigte den nötigen Knopf. Ein aufmunternder Blick stahl sich in sein Gesicht, dann wandte er sich ab und verschwand im Flur. Rina hörte ihr Herz laut gegen die Rippen hämmern. Diese Rebellen waren zu freundlich, zu aufgesetzt, zu alles. Ihre Augen hafteten auf dem roten Punkt, der in der Mitte des Etagenknopfes leuchtete. Er schickte sie in das unterste Stockwerk.

      Dort angekommen, wurde sie beim Verlassen des Aufzugs von einer jungen Frau aufgehalten, die allem Anschein nach Wache stand. Auch sie fragte, wohin Rina wollte und wieder antwortete sie so kurz wie möglich. Dieses Mal wurde sie unfreundlich abgefertigt und in ein Zimmer abseits gebracht, wo sie warten musste. Die Frau, die sie bis zum Raum begleitet hatte, schärfte ihr noch ein, nicht ohne Grund durch die Gänge zu schleichen. Das mache einen verdächtigen Eindruck und sei nicht gern gesehen. Man brauche zwar keine Genehmigung wie sonst in Red-Mon-Stadt, aber einen Anlass, alles andere war nicht zu empfehlen. Als sie ging, schloss sie die Tür hinter sich und absolute Stille ummantelte Rina.

      Der Raum glich einer Abstellkammer.