Jerry hatte die Asche in den Sand fallen lassen und verteilte sie mit dem Fuß, als hätte er Angst, das Foto könne sich wie von Geisterhand wieder zusammensetzen. Nun war es in alle Winde verweht oder besser gesagt versandet. Auf nimmer Wiedersehen. Gut so.
Jerry wandte sich wieder seinen Malerarbeiten zu und strich mit geradezu zärtlicher Liebe den Bug eines seiner Boote an.
Eugenio betrachtete den Freund mit schiefgelegtem Kopf. So hatte er Solimár selten erlebt. Dieser Bruder musste ihm schwer zugesetzt haben. Eugenio war tief betroffen. Der Freund hatte nie einen Bruder erwähnt. Auch von seiner Familie hatte er so gut wie nicht gesprochen. Als der Amerikaner damals bei ihnen auftauchte, dachten sie zuerst, er habe etwas mit Drogen zu tun. Kein Amerikaner hatte es bisher als besonders erstrebenswert angesehen, an diesem venezolanischen Ort auf Dauer zu leben. Die Touristen, die hier ihren Urlaub verbrachten, schwärmten zwar von der schönen Landschaft, dem Strand und der Idylle, aber keiner war darauf erpicht, auf seinen gewohnten Komfort zu verzichten. Sie hätten niemals so wohnen und leben wollen wie die Einheimischen.
Deshalb waren die Fischer und anderen Einwohner sehr argwöhnisch gewesen, als Jerry auf der Bildfläche erschien. Amerikaner, die sich auf Dauer hier ansiedelten, waren nicht selten in undurchsichtige Geschäfte verwickelt. Mit solchen Sachen wollten die Leute in San Juan nichts zu tun haben.
Jerry hatte damals irgendetwas davon erzählt, dass er aus gesundheitlichen Gründen in einem anderen Klima leben müsste, hatte ein hochgestochenes Zeug zum Besten gegeben, das sich sehr logisch anhörte und allen einleuchtete. Außerdem hatte er versichert, dass seine gesundheitlichen Probleme nicht ansteckend seien und dass es ihm bestimmt bald schon besser gehen würde, wenn er erst einige Zeit hier wäre. Tatsächlich ging es Jerry schnell besser, was seine Glaubwürdigkeit erhöhte. Zudem sah er völlig fit aus. Und er hatte von Anfang an gefragt, wo er sich nützlich machen könnte. Er wolle einfach nur ein bisschen leben und brauche keinen Komfort. Weil er auch keine Sonderwünsche anmeldete oder Empfindlichkeiten zeigte, akzeptierten ihn die Einheimischen schnell als einen von ihnen. Und er brachte sie zum Lachen. Schließlich hatte er sich mit Hilfe der Leute vor Ort eine kleine Existenz aufgebaut. Als Bootsverleiher war er sein eigener Herr, niemand schrieb ihm vor, wann und wie viel er zu arbeiten hatte. Und deshalb arbeitete er manchmal nur, wenn er Lust dazu hatte oder das Geld gerade mal wieder knapp geworden war. Oft half er auch seinen Freunden aus, wenn die besonders viel zu tun hatten. Für die Leute hier war Jerry die längste Zeit ein US-Amerikaner gewesen, auch wenn er noch die amerikanische Staatsbürgerschaft besaß. Sie warteten allerdings nur noch darauf, dass er einen Antrag auf Einbürgerung stellte. Genau das hatte Jerry auch vor. Aber man musste ja nichts überstürzen. Es eilte ja nicht.
Jerry sah nun aber von seiner Arbeit auf, weil er den Eindruck hatte, dass Eugenio ihn beobachtete. Tatsächlich starrte der Fischer ihn an wie ein Mondkalb.
“Hey, Eugenio, was ist?”, fragte Jerry verwundert, “was starrst du mich so an?”
“Ach, ich habe nachgedacht. Sag mal, Solimár, du bist mir doch nicht böse wegen dieser Sache mit dem Foto?”
“Ach Quatsch, das hab ich schon vergessen. Welches Foto?”, erwiderte Jerry mit betonter Lockerheit.
“Na, dann ist es ja gut. Ich wollte da nicht in Sachen rühren, die schmerzhaft für dich sind”, meinte Eugenio, aber er spürte, dass er da in einen Fettnapf getreten war und eine alte Wunde wieder aufgerissen hatte.
“Nun mach dir mal nicht so schwere Gedanken, Eugenio”, beteuerte Jerry, “denken wir einfach nicht mehr dran. Thomas ist es nicht wert, dass man auch nur einen Gedanken an ihn verschwendet. Wie sieht’s aus, holst du uns ein Bier aus der Küche?”
“Klar, amigo”, meinte Eugenio und verschwand im Haus.
Teil 1 – Kapitel 3
Einige Zeit nachdem Philip verschwunden war, summte die Gegensprechanlage zum Büro von Thomas.
“Sally, kommen Sie mal zu mir rein! Sofort! Es ist dringend!”, forderte Thomas seine Sekretärin in nicht gerade liebenswürdigem Ton auf.
Sally sah Maggie an, als habe der Großinquisitor persönlich sie vorgeladen. Und laut sagte sie: “Ja, selbstverständlich, ich komme sofort.”
Fünf Minuten später stand Sally wieder im Vorzimmer, und ihre Augen leuchteten.
“Maggie, es geschehen noch Zeichen und Wunder. Er will nach Venezuela fliegen! Diese Woche noch! Nimmt sich privaten Urlaub. Ich soll ihm einen Flug und ein Hotel in Cumaná buchen. Und jetzt rate mal, warum...”
Maggie sah ihre Kollegin an, als habe es gedonnert.
“Sag das nochmal”, meinte sie wie durch einen Nebel.
“Er will nach Venezuela fliegen, um eine persönliche Angelegenheit zu regeln und nimmt ganz privat Urlaub”, wiederholte Sally, “keine Dienstreise, sondern ein privater Besuch! Und jetzt kommt’s: Er will sich mit seinem Bruder versöhnen. Er meinte, er habe so ein schlechtes Gewissen, und er könnte es nicht mehr ertragen, dass sie so verfeindet wären. Das müsse man doch bereden können, was damals schiefgelaufen sei. Vielleicht wäre ja auch alles nur ein großes Missverständnis gewesen.”
“Woher kommt denn dieser plötzliche Sinneswandel?”, fragte Maggie kopfschüttelnd, “ich meine, wir wissen doch alle, dass die beiden sich zum Fressen gern haben genau wie die Zeichentrickfiguren Tom & Jerry. Normalerweise durfte man den Namen seines Bruders ja noch nicht mal in seiner Gegenwart erwähnen, dann flippte er schon aus.”
“Vielleicht liegt es auch daran, dass er sich auf diese Stelle des Obersten Bundesrichters bewirbt und beim Präsidenten bzw. den Leuten auf dem Empfang heute Nachmittag Eindruck schinden will”, mutmaßte Sally, “ich meine, hier in New York, da ist es egal, ob der Herr Richter ein übellauniger Kerl ist. Und außerdem sitzt er schon viel zu fest im Sattel, war bisher sehr erfolgreich. Da sägt keiner an Dr. Gnadenlos’ Stuhl wegen einer kleinen Familienfehde. Aber wenn man in ein so hohes Verfassungsorgans will, macht es sich nicht gut, wenn man im Streit mit seinem einzigen Bruder lebt, wo in unserem lieben Heimatland die Familie einen derart hohen Stellenwert hat.”
“Damit könntest du Recht haben”, fand Maggie, “obwohl... wer weiß schon, ob Jeremiah sich mit ihm versöhnen will?!”
“Wenn nein, kann Dr. Gnadenlos aber immer noch behaupten, es sei die Schuld seines Bruders, dass der Streit nicht beigelegt werden konnte.”
“Auch wieder wahr.”
Es entstand eine Pause.
“Aber was war mit Philip?”, meinte Maggie plötzlich und sah Sally irritiert an, “er kam doch völlig verstört aus dem Büro. Sonst hatte er immer noch ein freundliches Wort für uns oder hat einen Witz erzählt oder sonst irgendwas Nettes gemacht. Aber eben hat er uns noch nicht einmal beachtet. Als ob wir Luft wären!”
“Vielleicht hat Dr. Gnadenlos ihm das mit der Versöhnungsaktion auch erzählt, und Philip konnte es einfach nicht glauben”, erwiderte Sally achselzuckend.
“Das erklärt aber nicht, warum Philip vor sich hin gemurmelt hat ‘Er hat den Verstand verloren!’. Da steckt noch was anderes dahinter”, beharrte Maggie.
“Du hättest Detektiv werden sollen, Maggie!”, bemerkte Sally langsam ungehalten, “aber soll ich dir mal was