Philip war wie erschlagen, als er seinen Kollegen so reden hörte. Er schüttelte den Kopf und hauchte fast tonlos: “Wie?”
“Wie?!”, wiederholte Thomas und grinste dieses beinahe unnachahmliche Lächeln, zu dem nur sein Doppelgänger in der Lage war, “wie ich das angestellt habe, meinen Sie?! Nun, vor gut achtzehn Monaten setzte sich ein Mann namens Smith mit mir in Verbindung. Er wählte diesen weit verbreiteten Namen, weil er anonym bleiben wollte und erzählte mir, er habe Anhaltspunkte, wie die Drogenmafia ihr Geld waschen würde. Gegenwärtig könnte er noch nichts Konkretes sagen, aber er würde Nachforschungen anstellen. Dazu bräuchte er allerdings absolute Diskretion und sah in mir den idealen Partner, so eine Aktion durchzuziehen. Und er wollte sich mit mir immer nur von öffentlichen Telefonen aus in Verbindung setzen. Ferner rief er stets aus verschiedenen Städten an der Ostküste an. Seine Post versandte er über ein Postfach, das er unter diesem Decknamen angemietet hatte. Damit auch in meiner Umgebung niemand Verdacht schöpfen oder Kenntnis von der Aktion erlangen konnte, bat er mich, ebenfalls ein Postfach anzumieten, und zwar unter meinem richtigen Namen. Er würde sich dann als eine Art Literaturversand für Juristen ausgeben, so dass man denken würde, Dr. McNamara hätte einen kleinen feinen Fachzirkel aufgetan. Auf diese Weise würden weder die Sekretärinnen noch andere Kollegen und Mitarbeiter noch die Familie etwas von diesen Aktivitäten erfahren. Und ich durfte ihn auf keinen Fall von mir aus kontaktieren, weder telefonisch noch schriftlich, damit niemand in seiner Umgebung erführe, dass er mit mir in Kontakt stehen würde. Das stellte allerdings auch kein Problem für mich dar, weil er in relativ regelmäßigen Abständen anrief, so dass wir uns beraten konnten. Tendenziell kontaktierte er mich auf meinem Mobiltelefon nach Dienstschluss im Büro, wenn die Sekretärinnen schon gegangen waren. Meistens machten wir eine Zeit aus, wann er mich wieder anrufen würde, so dass ich mich darauf einstellen konnte. Und nun sind wir kurz davor, den Sack zuzubinden. Smith hat mir noch die restlichen Informationen zugesandt, die ich brauche, um die Kerle zu schnappen und vor Gericht zu bringen.”
“Allerdings”, Thomas machte eine Pause, “fehlt noch ein einziges Detail. Smith sagte, er würde auf die Info noch warten. Es handelt sich dabei um einen Grundbuchauszug einer Immobilie in Venezuela. Über dieses Land wickeln die Schweine von Drogenbossen ihre Geldwäsche ab bzw. es ist nur ein Glied in der Kette der schmutzigen Geschäfte. Das Prinzip ist ganz einfach. Man kauft Immobilien und verkauft sie wieder und so weiter und so weiter. Nachher blickt niemand mehr durch, wer wann wo einen Kredit aufgenommen und wieder abbezahlt hat. Und wahrscheinlich will auch niemand den Durchblick haben, weil genügend Leute geschmiert oder bedroht wurden. Auf jeden Fall verkaufen diese südamerikanischen Lumpen uns nicht mehr für dumm. Und das Schönste ist, dass sie keine Ahnung haben, dass über ihren Köpfen schon das Damoklesschwert schwebt. Bisher konnten sie ihre schmutzigen Geschäfte abwickeln, und wir waren nicht in der Lage, etwas dagegen zu machen. Wenn wir mal Anhaltspunkte hatten, dann verflüchtigten sich Beweise, Zeugen und Ermittler schneller, als Schnee in der Sonne schmilzt. Aber diesmal ist das nicht so, denn jetzt kommt mein Geniestreich. Weil ich weiß, was für einen Grundbuchauszug ich brauche, werde ich selbst nach Venezuela fliegen und ihn mir besorgen. Und wissen Sie, wie ich das tarnen werde? Ich werde behaupten, dass ich meinen Bruder, mit dem ich mich vor Jahren zerstritten habe, besuchen und mich mit ihm versöhnen will. Damit kann ich bei der Bewerbung für das Bundesrichteramt noch zusätzliche Pluspunkte sammeln, und zwar egal wie es ausgeht. Denn selbst wenn das mit der Versöhnung nicht gelingt, wovon ich mal ausgehe, kann ich immer sagen, dass mein Bruder es nicht wollte. Dann soll mir noch jemand nachsagen, ich wäre nicht bereit, Streitigkeiten aus dem Weg zu räumen. Okay, soweit zu meinem Part bei der Aktion. Sollte mir aber irgendwas zustoßen, brauche ich jemanden, der eingeweiht ist und die Sache zu Ende bringen kann. Bisher wissen nämlich nur dieser Smith und ich von der Sache. Deshalb werde ich Sie morgen über Tag gründlich in dieses Material einarbeiten, damit Sie komplett im Bilde sind. Ich fliege dann am Mittwoch nach Venezuela, besorge mir am Donnerstag die Unterlagen und bin spätestens am Sonntag wieder zurück. Und am Montag werden wir unseren Überraschungsangriff starten. Ich freue mich jetzt schon auf die völlig ungläubigen Gesichter dieser Schurken, das können Sie mir glauben!”
Philip saß da wie gelähmt. Einerseits war er begeistert, weil Thomas vor so einem großen Erfolg stand, über den sich auch er, Philip, freute. Andererseits war er entgeistert, weil sein Kollege sich in derart große Gefahr begab. Wieso konnte der nicht warten, bis dieser Smith ihm die letzte fehlende Information auch noch zuspielte? Und wenn Thomas diesen Schlag gegen das organisierte Verbrechen unter Dach und Fach gebracht hatte, konnte er doch immer noch die Versöhnungsaktion starten.
Allerdings teilte Philip die Meinung seines Kollegen, dass das mit der Versöhnung nicht funktionieren würde. Zum einen konnte sich nur schwerlich jemand vorstellen, dass Thomas sich wirklich mit seinem Bruder Jeremiah versöhnen wollte. Er hasste und verachtete diesen doch so sehr, dass er ihn schon vor Jahren aus den Staaten vertrieben hatte. Wenn er gekonnt hätte, hätte er ihn am liebsten in den Knast gesteckt, aber “unglücklicherweise” hatte der kleine Bruder nichts Ungesetzliches getan. Ein netter Bursche war dieser Jeremiah McNamara. Vor allem war er aber nicht so verkniffen wie sein älterer Bruder. Er hatte eine völlig andere Lebensphilosophie, und er wollte mit dem christlichen Glauben nichts mehr zu tun haben, weshalb er sich auch selbst als bekennenden Heiden bezeichnete. Das hatte Thomas ja auf die Palme getrieben, wo jeder in der Familie McNamara gefälligst überzeugter Christ zu sein hatte. Natürlich hielt sich Thomas für einen vorbildlichen Christen, ging er doch regelmäßig zur Kirche und gehörte dem Vorstand dort an. Das war für seine Mitmenschen allerdings kein Argument dafür, wirklich Christ zu sein. Denn bei Thomas’ Verhalten konnte man durchaus anzweifeln, dass er überhaupt Christ war. Interessant wäre sicherlich auch Gottes Meinung zu diesem Thema gewesen.
Obwohl Philip damit rechnete, dass sein Einwand jetzt nicht gerade auf Gegenliebe bei seinem Kollegen stoßen würde, wagte er sich doch vor.
“Thomas, ich schätze Sie sehr. Sie sind ein genialer Jurist, wir hatten nie einen fähigeren Richter hier in New York. Ihre Urteile waren absolut gerecht. Aber ich darf Sie auch freundlichst darauf hinweisen, dass Sie und ich Richter sind und keine Staatsanwälte. Deshalb gehört das, was Sie da vorhaben, gar nicht in unseren Kompetenzbereich...”
“Entschuldigung”, unterbrach ihn Thomas aufgebracht, “das ist mir auch klar. Und ich bin bestimmt nicht so dämlich, dass ich das Verfahren gegen die Drogenbosse anstrengen werde. Wenn ich aus Venezuela zurück bin, werden wir uns einen Staatsanwalt suchen, dem wir vertrauen können, damit der das Material einsetzt, um dieses ganze Verbrecherpack zur Strecke zu bringen. Und glauben Sie mir, Philip, ich werde bei all diesen Lumpen die Höchststrafe verhängen. Es ist schon ein absoluter Jammer, dass wir hier in New York die Todesstrafe nicht mehr vollstrecken, obwohl wir es dürften. Aber lebenslang in einem Gefängnis zu verrotten, wenn man zuvor im Prinzip der mächtigste Mann des Landes war, das kommt dem Tod fast gleich.”
Ich glaube, Sally hat hellseherische Fähigkeiten, dachte Philip entsetzt, okay, ich starte jetzt noch einen letzten Versuch, ihn von dieser Wahnsinnsaktion abzubringen. Und wenn er dann nicht einlenkt, lasse ich es bleiben. Er ist dann eh keinem guten Argument mehr zugänglich. Und außerdem würde ich ihm glatt zutrauen, dass er noch denkt, ich sei ein Spion, der eigentlich zur gegnerischen Seite gehört.
“Okay, das kann ich nachvollziehen”, befand Philip, “aber bei einer Sache ist es mir gar nicht wohl. Thomas, warum wollen ausgerechnet Sie diesen Grundbuchauszug besorgen? Smith hat doch so gute Arbeit geleistet. Vertrauen Sie ihm nicht mehr? Ich habe eher Sorge, dass etwas schiefgeht, wenn Sie nach Venezuela fahren, und das auch noch so plötzlich. Heute ist der 10. Juli, und am Donnerstag haben wir den 13. Juli...”
Weiter kam er nicht, weil Thomas ihn unterbrach.
“Sie sind doch nicht etwa abergläubisch, Philip?!”, knurrte der Jurist verärgert.