Lisanne. Julia Beylouny. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Julia Beylouny
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847619697
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Vergessenheit gerate, oder bist du stirbst.

      Ich höre das leise Wispern des Dünengrases. Der endlose Sand knirscht unter meinen Handflächen. Er ergibt sich meinem Gewicht, zeichnet meine Konturen in den weißen Puder. Der salzige Atem der See steigt mir in die Nase. Irgendwie fühlt es sich gut an, hier zu liegen, meinen Körper zu spüren und zu wissen, dass ich daheim bin.

      Das Pochen meines Herzens wirkt beruhigend. Wie muss es sich für dich anfühlen? Wirst du es vermissen?

      Mit einem Seufzen öffne ich meine Augen. Grelles Sonnenlicht lässt mich blinzeln. Ich schaue in den Himmel hinauf, über die Dünen und die Wiesen im Osten, über die auf den Strand rollenden Wellen und die Weite des Ozeans. Ja, hier werde ich mich wohl fühlen. Ich denke nicht, dass ich dich vermissen werde. Aber an dich denken, das verspreche ich, werde ich hin und wieder tun.

      Ich setze mich auf und streiche mit der Hand über die dunkle, kühle Fläche zu meiner Rechten. Es ist der schlanke Schatten des Turms im Sand. Zum Greifen nahe. An seiner Länge bemerke ich, dass es bereits später Nachmittag ist. Der erste Tag des Abenteuers neigt sich also dem Ende zu.

      Ich erhebe mich und klopfe mir den Sand aus den Kleidern. Dann drehe ich mich dem Turm zu. Von hier unten – aus dem Dünental – erscheint er mächtig, erhaben, beinahe bedrohlich. Eine dunkle Festung, ein kaltes Gefängnis wie das der Rapunzel. Ganz langsam gehe ich auf ihn zu. Als die Sonne hinter der Spitze hervortritt, ändert sich die Farbe des Turms von Schwarz in Rotweiß. Der verlassene Leuchtturm von Nowhere. Er ist wieder bewohnt.

      Die Holztür ist verwittert, ihr Lack blättert ab und sie knarrt, als wollte sie aus den Angeln fallen, wenn man sie zu weit aufsperrt. Ich betrete die erste Stufe der schmalen, scheinbar endlosen Wendeltreppe und atme die abgestandene, modrige Luft ein. Sie riecht widerlich. Trotzdem habe ich nicht vor, anzuhalten, bevor ich oben angekommen bin. Stufe um Stufe gleitet unter meinen Füßen dahin. Ich zähle leise in Gedanken mit. Dreiundfünfzig, vierundfünfzig, fünfundfünfzig. Meine Waden krampfen. Ich bin so verdammt unsportlich. Achtundsiebzig, neunundsiebzig, achtzig. Mit jedem Atemzug pfeifen meine Lungen, die es einen Dreck schert, dass die Luft hier oben stickig ist und nach Verwesung riecht. Endlich tut sich eine weitere Tür vor mir auf, kurz bevor die Atemlosigkeit mich zur Umkehr treibt. Sie ist nicht so verfallen wie die untere. Regen und Sturm gehören nicht zu den ungestümen Gästen, die an ihr zu rütteln pflegen. Ich drehe den hölzernen Knauf herum und trete ein. Sogleich ertönen ächzendes Flügelschlagen, Kreischen und Geräusche von fliehenden Seevögeln, die sich aus den zerbrochenen Fensterscheiben stürzen. Ich erschrecke, bis mir klar wird, was ich vor mir sehe: Ein ganzer Schwarm Strandammern hat den alten Leuchtturm als Brutstätte erwählt und in ein heilloses Chaos verwandelt. Ihr Dreck klebt auf den Bodenkacheln, Federn schweben durch den Raum, zerbrochene Eierschalen zieren die Sitzmöbel.

      Ich huste den Staub von meinen Bronchien und schaue mich um. Wenn man den Schmutz einmal unbeachtet lässt, dann bietet der große Wohnraum einen recht annehmbaren Anblick. Die Fenster zeigen aufs Meer hinaus und lassen ausreichend Licht einfallen, dass man im Sommer sicher ohne elektrische Hilfe auskommen kann. Unter einem dieser Fenster steht ein schlichtes Bett. Mein Bett. Es gibt eine Kochnische, ein Küchenregal, einen Tisch mit zwei Stühlen, ein Sofa, das sich zum Schlafen eignet, einen Schrank. Flickenteppiche, teilweise erhaltenes Geschirr und hinter einer halbhohen Trennwand eine Toilette und ein Waschbecken. Spartanisch. Unglaublich verdreckt. Aber, für jemanden wie mich, ausreichend.

      Ich kremple die Ärmel hoch und streiche mir die Haare aus der Stirn. Eine Menge Arbeit wartet auf mich.

      Den Rest des Abends nutze ich, um die Bodenkacheln zu schrubben, bis sie wieder blau-weiß sind. Ich räume auf, sammle Müll und Dreck ein, klopfe die Polster und Teppiche aus, fege Spinnweben und Staub aus den Ecken und tue alles, um den Raum bewohnbar zu machen.

      Bei Sonnenuntergang sinke ich erschöpft auf das Sofa. Erschöpft und hungrig. Aber, wie die Dinge stehen, werde ich an diesem Tag nichts essbares mehr auftreiben. Meine Augen fallen zu. Gleich darauf bin ich nicht länger allein. Sie nutzt den schwachen Moment und schaut mit ihren großen, fragenden Blicken direkt in mein Herz. Ich erschrecke und springe auf.

      „Nein!“, schreie ich sie an. „Verschwinde! Ich habe das nicht gewollt!“

       Von dem Moment an weiß ich, dass sie mir überall hin folgen wird. Es gibt keinen Ort in diesem Leben, an dem sie mich nicht findet.

      „Das ist der falsche Rasierschaum“, ertönte es in ihrem Rücken.

      Cut. Lisannes Lesefluss wurde jäh unterbrochen, als die Stimme in ihr Bewusstsein drang. Die unsichtbare Spur, die ihre Augen auf den Buchstaben hinterlassen hatte, war durchtrennt und abgeschnitten worden. Das war unglaublich schmerzhaft. Ihr Buch sank zu Boden, Lisanne schaute sich um.

      „Der Rasierschaum hier ist ...“

       „Musst du mich so erschrecken, Logan?“, rief sie, erhob sich, stemmte die Hände in die Seiten. Er verzog keine Miene, während sie vergebens auf eine Entschuldigung wartete. Chain stand direkt an ihrer Seite. Er war einfach dort. Bei ihr.

      „Den kannst du selbst behalten“, sagte Logan und drehte die Dose in seiner Hand umher.

      „Ein einfaches ‚Danke, dass du für mich eingekauft hast‘ hätte genügt! Was soll an dem Rasierschaum bitte falsch sein? Für spezielle Duftnoten hättest du mir die Marke nennen sollen. Aber die Kühe interessiert das ohnehin n...“

      Etwas flog auf sie zu. Aus einem Reflex heraus fing sie die Dose auf, bevor sie in ihrem Gesicht landen konnte.

      „Der Duft interessiert mich nicht. Wie gesagt: Lesen kann ich.“

       Er drehte sich um, verschwand hinter der Rosenhecke. Lisanne kochte vor Wut. Was bildete der Kerl sich ein? Sie würde Dad davon berichten, wie der Arbeiter sie behandelte. Es gab genug junge Burschen in Little Bree, die sich die Finger nach einem Job auf Wildflowers Hill leckten.

      Ladies. Lisanne las es zweimal. Auf dem Rasierschaum stand Ladies. So ein Mist! Chain hatte sich davongeschlichen.

       An der gegenüberliegenden Wand hing eine Fototapete. Strahlend blauer Himmel, weißer Sandstrand. Eine langhalsige Palme beugte sich neugierig über die Wellen, um die Spitzen ihrer Blätter ins Wasser zu tauchen. Lisanne seufzte. Ja, sie spürte, was Chain gespürt hatte. Zuvor, als er dort in den Dünengräsern gelegen und sich in den Sand geschmiegt hatte. Die selbe Sehnsucht überkam sie. Lisanne roch das Salz, als ihr die warme Brise ins Gesicht wehte. Chain. Er war bei ihr. Auf seltsame Art und Weise. Seine Einsamkeit berührte sie. Die Einsamkeit der Palme am Strand.

      „Na, wohin soll die Reise denn gehen?“, fragte Jill und rutschte grinsend auf ihrem Bürostuhl herum. Der Bildschirm ihres Laptops verdeckte einen Teil ihres Oberkörpers. „Oder hast du was vergessen?“

       Lisanne schaute in Jills blaue Augen.

      „Den Ort, an den ich gern reisen würde ... den gibt es gar nicht“, flüsterte sie. „Und, ja, ich habe was vergessen.“

       Jill hob eine Braue und schaute skeptisch. „Bist du irgendwie verwirrt? Ich meine, was genau willst du hier? Ich muss arbeiten.“

       „Ich weiß. Sorry. Im Moment ist hier ja nicht gerade der Bär los ... Wenn Kundschaft kommt, verschwinde ich, versprochen.“

      „Na, dann schieß mal los.“

      „Ach ...“ Sie schaute in ihre Hände, in denen sie etwas hielt, und ärgerte sich über sich selbst. „Es ... es geht um diesen Logan. Er ist unausstehlich! Wie gut nur, dass meine Eltern morgen zurückkommen. Sollen sie sich mit ihm herumschlagen. Ich weiß nicht, wieso Dad so jemanden eingestellt hat.“

       Bei dem Wort Logan schienen Jills Augen sich extrem zu vergrößern.

      „Das klingt endlich mal interessant, Lisanne!“

      „Hör bloß auf. Eigentlich ist es meine Schuld, dass er mir so blöd gekommen ist. Ich habe ihm einen Rasierschaum für Frauen mitgebracht.“ Sie hielt die Dose hoch, die sie zuvor bei Bryce im Laden umgetauscht hatte und erzählte die Geschichte aus dem Garten.

      „Du