Lisanne. Julia Beylouny. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Julia Beylouny
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847619697
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im alten Friseursalon?“, rief Lisanne.

      „Ja. Nach Mister Moyers Tod stand der Laden ewig leer. Ist doch toll, dass die Alte ihn gemietet hat. Ich liebe diese urigen Häuser hier in Bree.“

      Sie gab ihrer Freundin recht. Das Haus hatte sich verwandelt. Lisanne bestaunte das kleine mit Gold umrandete Schaufenster und die schmale Glastür, in der ein Schild hing: Open.

      Ihr Herz vollführte einen Freudensprung.

      „Oh, es sieht so schnuckelig aus! Hast du das Messingschild über der Tür gesehen? Worth reading – lesenswert. Das hört sich so bezaubernd an!“ „Mein Gott, ich verschwinde. Wo treffen wir uns?“ „Komm doch bitte mit, Jill!“

      „Danke, nein. Ich setze mich in der Zwischenzeit an den Hafen und warte darauf, dass die Touristen mich irgend etwas Lächerliches fragen. Also, beeil dich.“

      Auf der Fensterbank des Antiquariats stand ein Blumenkasten. Üppige Verbenen quollen daraus hervor, leuchteten in frischem Flieder und Weiß. Eine lesende Steinfigur hockte daneben und rang Lisanne ein Lächeln ab. Als sie durch die Tür in den Laden trat, klingelte ein Glöckchen.

      „Bin gleich bei Ihnen!“, ertönte es aus einer Ecke.

      Die Tür fiel zu und Lisanne verschlug es die Sprache. Mit geschlossenen Augen nahm sie den staubigen Geruch alter Bücher in sich auf. Deckenhohe Regale füllten den Raum aus, ein jedes bis zum Bersten mit Literatur geschwängert. Vor einem der Regale lehnte eine Holzleiter, die das Erreichen höher gelegener Fächer ermöglichte. Lisanne entdeckte ein Fenster, das zum Hinterhof hinaus zeigte und unter dem ein Ohrensessel zum Stöbern einlud. Eine Leselampe stand auf einem eichenhölzernen Dreifuß. Was für ein gemütlicher Ort zum Träumen! Sie musste achtgeben, Jill nicht zu vergessen.

      Lisanne wanderte von Regal zu Regal, nahm hin und wieder ein Buch heraus, las es an und schob es in seine Lücke zurück. Beinahe jedes Genre war vertreten. Von Klassikern über Reiseführer, von Uraltwälzern bis hin zu Gegenwartsliteratur. Thriller, Fantasy, Krimis, Historisches, Schnulzen – wie Jill sie nannte. Und dann machte Lisannes Herz einen erneuten Freudensprung: Mason. Das Antiquariat verfügte über ein komplettes Regal von Luke Mason. Mit dem Zeigefinger fuhr sie über jeden einzelnen Band, las die Titel, schmunzelte bei der Erinnerung an die Bücher und deren Protagonisten. Oh, wie sie Jill liebte! „Entschuldigen Sie, junge Dame. Ich habe Sie lange warten lassen. Haben Sie schon was gefunden, oder darf ich Ihnen behilflich sein?“

      Die Stimme der alten Frau klang nett und lebendig. Lisanne hob den Kopf und schaute in zwei wunderschöne braune Augen. Wenn das Gesicht ihres Gegenübers auch faltig und von schweren Jahren gezeichnet war, die Augen waren so jung wie die eines Kindes, das neugierig in die Welt blickte. Über ihrer Brust baumelte eine Lesebrille an einem Band. Eine dünne, aber willensstarke Hand streckte sich Lisanne entgegen.

      „Mein Name ist Eleonora Dunnighan. Ich bekleide das ehrwürdige Amt, diese unzähligen, stets wispernden Buchstaben am Leben zu erhalten.“

       Lisanne schlug begeistert ein. „Das haben Sie schön gesagt, Mrs. Dunnighan. Ich bin Lisanne und immer auf der Suche nach literarischen Abenteuern. Momentan habe ich das Gefühl, im Paradies zu sein!“

      Mrs. Dunnighan zog sie nahe an sich heran, sodass Lisanne ihr dezentes, nach Weihrauch duftendes Parfum einatmete.

      „Ich habe es gleich gespürt“, raunte die Alte. „Wir beide sind seelenverwandt. Es gibt nur wenige Menschen, die wissen, was es bedeutet, ein Buch zu lesen. Bei dir, junge Dame, bin ich sicher, dass du es weißt.“

      „Jaja, schon möglich ... Ähm, ist das da drüben alles, was Sie von Luke Mason haben?“

       Mrs. Dunnighan löste den Händedruck und zog eine Braue hoch.

      „Was soll das heißen, alles? Es sind seine zehn Bestseller. Das Neueste, Das Haus am See, ist selbstverständlich auch dabei. Und einen Mason lassen Menschen wie du und ich uns doch auf der Zunge zergehen, nicht wahr?“

      „Natürlich tun wir das.“ Lisanne lächelte beschämt. „Ich wollte damit nur sagen, dass ich all diese Bücher von ihm bereits kenne und hatte gehofft, ein mir unbekanntes Exemplar zu entdecken.“

      Mrs. Dunnighan schob sich die Lesebrille auf die Nase, prüfte mit der linken Hand die Festigkeit ihres Dutts und musterte Lisanne. Ihr Weihrauchparfum vereinte sich mit dem herrlich staubigen Bücherduft.

      „Wir sollten uns setzen, junge Dame“, sagte sie, drehte sich um und lief zum anderen Ende des Raumes hinüber, dorthin, wo der Ohrensessel stand. Lisanne folgte ihr und erwartete, dass die alte Frau es sich in dem Sessel bequem machte. Stattdessen drückte sie Lisanne in das weiche Polster hinab. Mrs. Dunnighan schob die Leselampe zur Seite und setzte sich – zu Lisannes Erstaunen – auf den morsch wirkenden Dreifuß.

      „Aber ... das ... Kommen Sie, setzen Sie sich doch in den Sessel. Ich kann auch stehen oder mich auf den Holzstuhl ...“

       „Kein Wort, junge Dame. Noch bin ich keine Hundert, kapiert? Zudem passt mein knochiger Hintern besser zu dem harten Holz.“

      Mrs. Dunnighans Hand wanderte an ihr Kinn, wo ihre Finger unruhig auf und ab tippten. Die braunen Augen verfügten über einen die Röte ins Gesicht treibenden Röntgenblick. „Du suchst also etwas von Luke Mason. Was liest du sonst noch?“

      Lisanne zählte brav ihre Lieblingsautoren auf, die unzähligen Bücher ihres STUBs und alles, was sie bereits an Lektüre gelesen hatte. Sie kam sich vor wie in einer Prüfung und fragte sich, wieso es die Alte interessierte.

      „Bemerkenswert“, murmelte Mrs. Dunnighan. „Du scheinst in deinem jungen Leben schon mehr gelesen zu haben als die NASA Kilometer durchs All gebraust ist. Nun, leider habe ich nur das, was du hier in den Regalen zu finden vermagst. Aber ...“ Die alte Frau erhob sich und schaute einen geheimnisvollen Blick. „Weißt du was, Lisanne? Je länger ich dich betrachte, desto seltsamer wird mir zumute. Irgendwas sagt mir, dass du die bist, auf ich die ich sehr lange Zeit gewartet habe. Ein gefühltes halbes Leben lang, um genau zu sein.“

      Ein Frösteln rieselte durch ihre Glieder.

      „Sag mir, Kind, was empfindest du beim Lesen? Und komm mir nicht mit Alltagsantworten wie: ‚Es macht mir Spaß‘, ‚Ich finde Ablenkung vom Stress auf der Arbeit‘, oder Nonsens wie: ‚Ich lese dieses Buch, weil alle es gelesen haben und ich mitreden will‘. Bedenke deine Antwort gut und lass sie deinem aufrichtigen Herzen entspringen.“

      Lisanne schluckte. So unheimlich und geheimnisvoll die Situation auch war, Mrs. Dunnighans Worte öffneten etwas in ihr. Sie berührten eine wunderschön klingende Saite in ihrem Innern. Seelenverwandt, ja das traf es. Endlich war dort jemand, der sie verstand. Der nicht über sie lachte oder ihre Leidenschaft für Bücher als Schwachsinn abtat. Lisanne lehnte sich verträumt zurück und ließ ihr Herz sprechen: „Wenn ich ein Buch in der Hand halte, dann entschwinde ich in eine fremde Welt“, schwärmte sie. „Ich bin Teil der Handlung, lebe in den Zeilen und fühle, was die Figuren durchleben. Ich atme die schwere, die süße, die bittere Luft. Ich friere, wenn es schneit, ich schwitze, wenn ich in der Schwüle auf den See hinaus rudere. Ich höre das Zirpen der Grillen und das Quaken der Frösche. Manchmal juckt es mich sogar, wenn die Mücken sich auf meine Arme setzen. Ich lebe im vorletzten Jahrhundert, ich bereise den Mars. Ich bin eine Nymphe, eine arme Witwe, ein vom Blitz getroffenes Tier. Es gibt wahnsinnig viele Gerüche in einer Geschichte. Finden Sie nicht auch, dass Texte verschiedene Geschmäcker haben? Es gibt Bücher, die schmecken süß wie reife Bananen mit Honig. Und welche, von denen einem übel werden kann, weil sie ungenießbar sind. Die wenigsten malen reale Bilder. Flieder und Smaragdgrün, strahlend Gelb oder leuchtend Himmelblau. Es gibt tote Bücher, die keine rechte Gestalt annehmen wollen und bis zur letzten Seite neblig grau sind. Und es gibt lebendige Bücher, die so intensiv an meinem Inneren rütteln, dass ich nur noch weinen oder lachen oder träumen will.“ Lisanne atmete tief durch, bevor sie zum Ende kam. „Und wenn ich ein solches Buch aus der Hand lege, dann kehre ich sonnengebräunt, bereichert, voller Fernweh und dankbar in meine Welt zurück. Aber die Sehnsucht auf