Lisanne. Julia Beylouny. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Julia Beylouny
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847619697
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      Lisanne schaute in die funkelnden braunen Augen, die einfach nicht zu dem greisen Gesicht passen wollten. Ob Mrs. Dunnighan sie für verrückt hielt?

      Ein triumphales Lächeln umspielte die schmalen Lippen ihres Gegenübers. Laut- und wortlos ging die alte Frau zur Theke hinüber, auf der eine antike Kasse stand, und winkte Lisanne zu sich. Sie erhob sich und begleitete Mrs. Dunnighan ahnungslos in den hinteren Bereich des Ladens.

      „Ich ... ich hoffe, Sie halten mich nicht für übergeschnappt“, faselte sie. „Das war meine ehrliche Antwort auf Ihre Frage. Ich muss jetzt auch los. Meine Freundin wartet unten am Hafen und zudem muss ich noch einige Einkäufe erledigen ...“

       „Schsch, kein Wort, junge Dame. Du bist es. Du bist die, auf die ich immer gewartet habe und wenn du es jetzt mit deinem Geschnatter verdirbst, werde ich kein nächstes Mal erleben. Kapiert?“

      „Ähm ... Nein, nicht wirklich. Wieso haben Sie auf mich gewartet?“ Lisanne begriff nicht.

      Die alte Frau lief zu einer schweren Eichentruhe, die eine komplette Nische ausfüllte und von Holzwürmern geplagt war. Sie hob den knarrenden Deckel an, griff in die Truhe und zog ein in Leder gebundenes Buch heraus. Dann blies sie ihre Wangen auf, pustete eine Menge Staub von dem Einband, hüstelte, strich liebevoll über das Leder und presste das Buch an ihre Brust. Als Mrs. Dunnighan ihre Stimme erhob, klang sie feierlich wie die einer frisch gekrönten Kaiserin.

      „Dies, meine liebe, ist etwas ganz besonderes. Man sollte meinen, jemand in meiner Stellung käme des Öfteren an Werke wie jenes hier. Aber dem ist nicht so. Dem ist gewiss nicht so.“ Die Alte stöhnte. „Es ist mir ein so seltenes und wertvolles Exemplar, dass ich es nicht jedem X-Beliebigen mitgeben würde. Um genau zu sein: Ich hatte nie vorgehabt, es überhaupt jemandem zu überlassen. Aber du – jemand wie du – bist mir vom Himmel ein Geschenk. Meine Tage sind gezählt. Und wenn ich es denn aus der Hand geben muss, dann in Hände wie deine. Ich kann sicher sein, nach allem, was du da eben gesagt hast, dass es bei dir ankommen kann. Es ist ein Buch, welches auf Reisen war. Nun nicht mehr. Nun ist es angekommen. Du suchst nach einem Buch in meinem Antiquariat? Hier bekommst du mehr als nur ein Buch.“

      Lisanne kratzte sich am Kopf und fragte sich, wer von ihnen übergeschnappt war.

      „Nimm es, Lisanne. Bitte, nimm es. Lies es, lebe es, verliere dich in dieser Geschichte.“ Mrs. Dunnighan streckte beide Hände aus und reichte Lisanne den Ledereinband. Sie nahm ihn zögernd an, aber bevor die alte Frau ihn losließ, flüsterte sie: „Lass dich warnen: Es wird etwas mit dir anstellen. Es wird dich verändern. Es wird dein Leben auf den Kopf stellen. Und“, die Alte stöhnte erneut, „es wird dir das Ende vorenthalten.“

      „Mir das Ende ... vorenthalten?“ Mrs. Dunnighan zuckte die Achseln. Gleich darauf sprach sie über ihr heiligstes Exemplar, als wäre es nichts weiter, als belangloses Gekritzel. „Naja, es ist ein unfertiges Manuskript. Du wirst dich furchtbar aufregen, weil es mittendrin abrupt endet. Aber ... lies selbst, um zu verstehen, was ich meine. Und jetzt, geh bitte. Ich schließe den Laden für heute.“

      Lisanne hatte das Antiquariat verlassen. Sie war verstört, neugierig und von einem mulmigen Bauchgefühl geplagt. Mrs. Dunnighan war eine Märchengestalt, aber die geheimnisvolle Alte gefiel ihr.

      „Behalte es“, hatte sie gesagt. „Es ist ein Geschenk. Und um so viel besser als alle Masons, die du je gelesen hast.“

      Besser als alle Masons, die ich je gelesen habe, hallte es in ihrem Kopf nach. Sie blieb stehen, schaute zum Hafen hinunter und entdeckte Jill, die nahe eines Anlegers saß und ihre Beine ins Wasser baumeln ließ. Ihre Freundin hatte sie noch nicht bemerkt. Das nutzte Lisanne, um einen hastigen, bauchkribbelnden Blick in den Ledereinband zu wagen. Nur den Titel erhaschen ... oder den Namen des Autors. Oder war es eine Autorin? Sie klappte den Buchdeckel auf und zog ein langes Gesicht. Jemand hatte die ersten Seiten lieblos und unsauber herausgerissen. Sie spürte den Schmerz der verstümmelten Bögen, die einmal lebendige Schriftzeichen getragen hatten. Das Manuskript war von Hand geschrieben. Zum Glück leserlich. Aber ... Lisanne blätterte vor und wieder zurück ... aber nirgends war ein Titel oder der Name des Verfassers zu finden. Wie schade.

      „Was hast du dir denn da für ‘n Schrott andrehen lassen? Das hast du doch wohl nicht bezahlt?“

       Sie erschrak. Jill spähte ihr über die Schulter und spottete über das geheimnisvolle Manuskript, welches Mrs. Dunnighan so viel bedeutete. Schnell klappte Lisanne es zu und ließ es in ihrer Tragetasche verschwinden.

       „Nein, das“, sie setzte ein belangloses Lächeln auf, „das hat die Inhaberin mir geschenkt. Mal sehen, was ich damit anstelle. Ich hoffe, du hast nicht zu lange warten müssen. Auf zu Bryce?“

      Jill schaute skeptisch, dann nickte sie. „Klar. Auf zu Bryce. Geschenkt, also? Hm, na dann. Einem geschenkten Gaul ... Du weißt schon.“

      Kapitel drei

       Am frühen Nachmittag war sie zurück auf Wildflowers Hill. Nachdem sie die Einkäufe bei Bryce getätigt hatten, hatte Jill sich verabschiedet. Sie musste zur Arbeit; in das hübsche Reisebüro in Little Bree Isle.

      Lisanne griff nach der großen Tasche und stellte Logans Kram, zusammen mit dem Rückgeld, vor seiner Haustür ab. Sie hatte nicht vor, anzuklopfen und ihm zu begegnen. Er würde ihr mit seiner Laune den Tag verderben. Und es war ein wunderschöner Tag. Die Sonne zeigte sich ungewöhnlich lange und schien so warm, dass Lisanne es sich im Schatten der alten Linde im Garten bequem machte, um die letzten Seiten vom Haus am See zu lesen. Zu schade, dass sie einmal mehr lieb gewonnene Freunde verabschieden musste.

      Das Ende rührte sie zu Tränen: George wurde in einer entscheidenden Schlacht verletzt und verlor seine Beine. Drew heiratete ihn trotzdem. Oh, wie gern sie mit Drew getauscht hätte! Breda hatte mal gesagt, es würde nicht sehr oft vorkommen, dass sich zwei Menschen, die füreinander bestimmt waren, auch fänden. Bei George und Drew war es geschehen, sie hatten einander gefunden.

      Mit feuchten Augen legte sie das Buch aus der Hand und spähte in die Ferne. Die Südstaatenatmosphäre hüllte sie noch immer ein. Sie brauchte einen Moment, um George und Drew gehen zu lassen. Sie schaute ihnen zu, wie sie im duftenden Gras nahe des Ufers saßen und auf den See hinaus blickten. Die Mücken tanzten, sanfte Wellen spiegelten das Sonnenlicht. Er war ein Krüppel, ja. Aber er hatte bloß seine Beine verloren. Nicht sein Herz. Nicht seine Seele.

      Logan war ganz anders als George. Alle Männer waren ganz anders als die Helden in den Romanen. Lisanne strich ihren Rock glatt. Dabei streifte ihre Hand die Tragetasche aus dem Antiquariat, die neben ihr im Gras lag. Eine Gänsehaut bildete sich auf ihrem Rücken. Eine kribbelnde, angenehme Gänsehaut, als würde die Tragetasche einen verborgenen Schatz enthalten. Ganz behutsam glitt Lisannes Hand in die Öffnung. Ihre Finger tasteten nach dem Ledereinband, umfassten ihn und zogen ihn heraus. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Sie bettete das Buch in ihren Schoss und schlug es auf.

      Besser als alle Masons, die ich je gelesen habe.

      Sie musste herausfinden, ob das stimmte. Der Stamm der alten Linde umfing sie, als sie sich zurücklehnte und mit vor Aufregung rasendem Puls die ersten Zeilen in sich aufnahm. Baum und Gras, Sonne und Schatten, Stimmen und blökendes Getier traten in einen fahlen Hintergrund, der völlig unwichtig wurde. Buchstaben reihten sich aneinander, ergaben Sinn, malten ein Bild, entfalteten ihr süßes Aroma, dufteten wie eine Sommerwiese nach einem Regenschauer.

      Wie knüpft man an, wie lebt man weiter? Wo ist der Wegweiser, der aus der Finsternis ins Licht führt? Und so wähle ich ... das Exil, um uns beide zu schützen. Vielleicht wird nur einer von uns überleben. Insgeheim hoffe ich, dass ich derjenige bin.

      Wohin verbanne ich dich? Dorthin, wo mein Herz am liebsten ist.

      Meine Augen sind geschlossen, während ich im warmen Sand liege, auf Ruhe, Seelenfrieden und Antworten warte, die ich niemals erhalten werde.

      In der Ferne rauscht das Meer. Seevögel kreischen und eine warme Brise bläst mir