Lisanne. Julia Beylouny. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Julia Beylouny
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847619697
Скачать книгу
die Höhe stiegen und einander zum Spiel herausforderten. Was für eine Freude, ihnen dabei zuzuschauen. Logan hatte recht behalten: Es war gut gewesen, sie auf die Weide zu treiben.

      Schweren Herzens wandte sie den Blick ab, lief in ihr Zimmer, schlüpfte in Shorts und eine dunkle Bluse. Die Haare knotete sie zu einem hohen Dutt zusammen, damit sie ihr bei der Stallarbeit nicht ins Gesicht fielen. Sie erinnerte sich daran, was Logan den Pferden zugeflüstert hatte. Um nichts in der Welt wollte sie darauf warten, dass er kam, um ihr zu sagen, was sie zu tun oder zu lassen hatte. Finlay war ihr Pferd. Sie wusste selbst, was das bedeutete, stieg in die ausgetretenen Lederschuhe, die sie für den Stall ausrangiert hatte, und machte sich auf den Weg zu den Boxen. Während sie über den Hof lief, atmete sie die herrliche Sommerluft ein. Schwalben zwitscherten vom Giebel des Wohnhauses, wo sie sich unter dem Dach ein Nest gebaut hatten.

      Ohne Fin und Alf wirkte der Pferdestall trostlos und leer. Eine schwere Dunstwolke, die nach Heu roch, hing wie Nebelschwaden im Raum. Woher sie stammte, konnte Lisanne sich nicht erklären, maß ihr auch keine weitere Bedeutung zu. Der Mist in den Boxen stand nicht besonders hoch, offenbar kümmerte Logan sich regelmäßig darum. Trotzdem war es an der Zeit, ihn gegen frisches, sauberes Stroh auszutauschen. Sie nahm sich eine der Mistgabeln, die an der Wand lehnten, und ging in die erste Box. Es war stickig, die Luft stand. Die Sonne tat ihr Übriges, indem sie die Scheune aufheizte. Lisanne schob die Schubkarre in die geöffnete Boxentür und begann, Gabel um Gabel des verdreckten Strohs hinein zu hieven. Es dauerte nicht lange, bis sie ins Schwitzen geriet. Das von Kot und Urin durchtränkte Streu wog schwer, die lästigen Fliegen surrten ihr um den Kopf. Sobald die Karre voll war, fuhr sie sie raus auf die Miste, wo das alte Stroh angehäuft und später aufs Feld gefahren wurde. Eine gefühlte halbe Stunde später waren beide Pferdeboxen sauber und ausgefegt. Lisanne sank in einen Heuhaufen, wischte sich mit einem Zipfel ihrer Bluse über das schweißnasse Gesicht und verschnaufte einen Moment. Vielleicht war es Paranoia, oder die Stille, die sie erst in dem Moment wahrnahm. Sie fühlte sich beobachtet. Etwas machte die schwere Stallluft noch drückender. Vielleicht war es das Heu, das ihr in die Arme stach und ihre Haut prickeln ließ. Sie wischte sich ein letztes Mal durchs Gesicht, strich die feuchten Haarsträhnen, die ihrem Dutt entkommen waren, hinter die Ohren und lachte. Wer sollte sie beobachten? Und wieso? Sie erhob sich, ging zur Leiter, die auf den Boden hinauf führte und begann, die Sprossen zu erklimmen. Von dort oben wollte sie einen Strohballen herunter werfen, um die Pferdeboxen mit frischer Streu auszulegen.

      Lisanne liebte den Heuboden. Shannon und sie hatten als Kinder dort oben verstecken gespielt, ein- oder zweimal im Stroh übernachtet, oder sich mit den Katzen zum Kuscheln dorthin verzogen. Später hatten sie Dad und Onkel Jamie während der Ernte geholfen, die Bunde hinaufzutragen und sie zu stapeln. Links kamen die Heuballen hin, rechts lagerte das Stroh.

      Als sie die letzte Sprosse erreicht hatte, stieg sie von der Leiter auf die Holzbretter, hielt sich an einem Balken fest und erschrak. Hinten, an der kleinen Dachluke, stand jemand. Als sie ihn erblickte, stieß sie einen Schrei aus. Logan hatte ihr den Rücken zugewandt, schaute aus der Luke über die Felder oder hinunter zur Koppel. Neben ihm lehnte ein Besen an der Wand. Lisanne begriff, wieso die Luft zuvor staubig gewesen war und nach Heu gerochen hatte. Er hatte gefegt, die Ballen zur Seite geräumt, um Platz für die kommende Ernte zu schaffen. So handhabte Dad es immer.

      „Wollte dich nicht erschrecken oder dich bei der Arbeit stören“, erklärte er, ohne sich umzuschauen.

      „Das hast du aber!“, rief sie etwas zu schroff. „Seit wann bist du hier oben?“

       „Ich war lange vor dir da.“

      „Dann hast du mich also beobachtet? Hast du mal dran gedacht, zu fragen, ob ich Hilfe gebrauchen kann?“ Das meinte sie nicht ernst. Sie hätte nie im Leben gewollt, dass er ihr half. Aber noch schlimmer war es, dass er die ganze Zeit dort oben gewesen war und sie angeschaut hatte. Endlich drehte er sich um. Für eine Sekunde begegneten sich ihre Blicke. Ihr schauderte und sie war nicht in der Lage, zu erklären, was in dem Moment mit ihr geschah. Er sah mindestens genauso verdreckt und verschwitzt aus wie sie selbst. Und zu wissen, dass sie beide völlig allein auf dem Hof waren, machte sie nervös.

      „Das hab ich“, sagte er. „Ich hab dran gedacht, dich zu fragen. Aber dann hab ich gesehen, dass du das ganz gut allein hinbekommst. Also hab ich mir eine Pause gegönnt und aus dem Fenster geschaut.“

      Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Er machte sie wütend. Sie war im Begriff, etwas zu erwidern. Aber sie schluckte es herunter, drehte sich um und griff nach dem nächstbesten Strohbund. Ihre Wangen glühten, Schweißperlen standen auf ihrer Stirn und bei jeder Bewegung spürte sie seine Blicke auf sich ruhen. Sollte er doch denken, was er wollte. Es interessierte sie nicht die Bohne. Sie wollte nur noch eines: So schnell wie möglich aus dem Stall flüchten. Aus dem Stall, aus seinen Augen, aus der zum Bersten stickigen Luft und seiner Präsenz, die Lisanne kaum atmen ließ. Wenn sie nur gewusst hätte, was es so unerträglich machte, in seiner Nähe zu sein.

      Es regnete Stroh, nachdem sie das Bund hinuntergeworfen hatte. Ohne sich noch einmal umzudrehen, griff sie nach den Sprossen der Leiter, stieg hinab, durchtrennte die Strohbänder, verstreute die Halme in den Pferdeboxen und verließ den Stall. Draußen lehnte sie sich an die Backsteinmauer, schloss die Augen, sog die frische Luft in ihre staubigen Lungen und versuchte, ruhiger zu atmen. Sie schob ihre aufbrausende Wut auf Logan. Wie konnte er es wagen, sich nicht zu erkennen zu geben und sie heimlich bei der Arbeit zu beobachten? Und dann auch noch so dreist zu sein, ihr nicht zu helfen.

      Kapitel sechs

      Es war spät geworden. Sie stand draußen auf der Terrasse, schaute über die Koppel bis hinunter zum Moor. Hin und wieder hallte das Quaken der Kröten durch die Stille. Lisanne war in ihr weißes Nachthemd geschlüpft, dass kaum bis zu den Knien reichte, hatte die Spangen aus ihren Haaren gelöst und die Arme vor der Brust verschränkt. Der Abend war mild, sodass sie nicht fror. Sie genoss den leichten Wind, der in ihren Haaren spielte, den dünnen Stoff an ihre Haut schmiegte. Die Pferde waren zurück in den Boxen, das neue Buch, welches sie angefangen und nicht gemocht hatte, war wieder ins Regal gewandert und während sie zum Mond hinaufschaute, fragte sie sich, wann ihre Eltern heimkommen würden. Sie hatte vor, auf sie zu warten, um ihnen mitzuteilen, dass sie sie nach Arles begleiten würde.

      Ihr Blick schweifte zum Horizont, wo im Osten der Nachthimmel aufzog. Der Einbruch der Dämmerung, der riesige Vollmond über dem dunklen Wald, das alles faszinierte sie. So war es schon immer gewesen. Schon, als sie klein gewesen war, hatte sie jedes Detail der Natur in sich aufgenommen und bestaunt. Sie kannte die Geräusche der Nacht, das Rufen der Tiere war ihr vertraut, das Pfeifen des Windes im Giebel des alten Bauernhauses hatte ihr seit jeher ein Schlaflied gesungen. London war zu laut, zu hell und die Nächte dort unterschieden sich kaum von den Tagen. In den Gassen lebten Ratten, den Raben im Tower stutzte man die Flügel, um sie gefangen zu halten. Sie schwor sich, ihr Studium schnellstmöglich zu beenden, um zurück nach Cornwall zu kommen. Eine kleine Dorfschule war genau das, wo sie arbeiten wollte.

      Als ihr Blick weiterwanderte, streifte er die Zaunpfähle der Pferdekoppel. Im nächtlichen Licht sahen sie wie kleine, gebeugte Kobolde aus, die im hohen Gras nach Pilzen suchten. Die Kieselsteine des angrenzenden Feldweges glitzerten wie ein silberner Bach im Mondschein. Und der Bach ... der Kieselweg floss direkt an der grünen Haustür des Cottages vorbei. Für eine Sekunde blieb ihr Blick an dem Häuschen hängen. Hatte sich dort nicht etwas bewegt? Sie kniff die Augen zu engen Schlitzen zusammen, um schärfer sehen zu können. Stand dort nicht jemand unter dem Fenster und schaute wie sie in die Nacht hinaus? Wirklich, ein Schatten hob sich von der Hauswand ab und sie wusste, dass es kein Baum, kein Strauch war, der im Wind wehte. Eine Gänsehaut überkam sie, als ihr bewusst wurde, wer dort stand. Logans dunkle Silhouette fügte sich in das nächtliche Bild ein. Vermutlich schaute er genau in ihre Richtung. Für ihn musste sie einen gut erkennbaren Punkt in der Dunkelheit darstellen. Das Mondlicht schien auf ihr helles Nachthemd, ließ ihre schneeweiße Haut und die blonden Haare gespenstisch leuchten. Lisanne fühlte sich zunehmend unwohl, in dem Wissen, dass er sie beobachtete. Allein zu ahnen, dass er dort stand, zerstörte den Hauch der unberührten Nacht. Logan hatte die stille Einsamkeit durchbrochen,