Lisanne. Julia Beylouny. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Julia Beylouny
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847619697
Скачать книгу
wenn man es mit seinen eigenen Händen fangen und zubereiten muss.

      Am Nachmittag gehe ich am Strand spazieren. Ich lebe von dem, was ich an meinem Körper trage, von Luft und Wellen, vom Meer. Nein, nicht von Liebe. Ich habe mir oft gewünscht, von Liebe zu leben. Aber diesen Traum habe ich stets verschenkt. Liebe zu verschenken ist eine Gabe. In meinem Fall habe ich diese Gabe zum Fluch werden lassen.

      Ich schließe meine Augen und habe einen Wunsch. Er wird sich erfüllen, weil ich es so will. Heute will ich von Liebe leben. Heute von meinen Erinnerungen. Von Erinnerungen an Liebe. Als ich meine Augen öffne, ist sie da. Sie schwappt vor meinen Füßen in den Wellen auf und ab. Ich muss nichts weiter tun, als meine Hand ausstrecken und sie an mich nehmen. Sie ist nass und salzig und Sand klebt an ihr. Aber ich bin glücklich. Ich kenne die Botschaft, die sie enthält. Das ist der Grund, wieso ich sie mir gewünscht habe.

      Ich setze mich in die Dünen und öffne den Korken. Dann stecke ich meinen Finger in den Flaschenhals, um das gerollte weiße Papier heraus zu holen. Ich habe heute Post bekommen. Einen Liebesbrief. Und ich kann nicht erwarten, ihn zu lesen.

       Sehr geehrter Chain,

       Sie kennen mich nicht. Aber ich kenne Sie. Und das, was Sie für mich getan haben, lässt sich nur schwer in Worte fassen. Es mag sich komisch anhören, aber es ist tatsächlich passiert. Man könnte meinen, Sie hätten mich zuerst gekannt, um dann alles zu stehlen, was Sie gesehen haben. Aber wir beide wissen, dass es nicht so ist. ( ... )

       Bitte, kommen Sie uns einmal besuchen. Sie sind unser ganz persönliches Wunder!

       Gott schütze und segne Sie! Vielen, vielen Dank für alles.

       Sie werden immer ein besonderer Teil unseres Lebens und fest in unseren Herzen sein.

       In Liebe und Dankbarkeit,

       R. & L.

      Heute lebe ich von Liebe. Ihre Liebe gibt mir Kraft, die Einsamkeit zu überwinden.

      Was ist mit dir? Liest du deine Post auch immer schön regelmäßig? Oh, ich habe vergessen, dass du keine mehr bekommst. Ohne mich bist du nicht mal in der Lage, selbst welche zu verschicken. Ohne mich ... ohne mich werden wir beide sterben.

      Ich sag dir was: Niemand hat die letzte Flaschenpost abgeschickt. Die letzte, verstehst du? Denn niemand weiß, wer sie war und was mit ihr passiert ist. Das wissen nur ... du und ich.

      Kapitel fünf

      Das laute Brummen der Melkmaschine weckte sie gegen halb acht am Morgen. Lisanne reckte sich, als ein dumpfes Plumpsen ertönte. Sie schaute verwundert auf und bemerkte den Ledereinband, der von ihrer Bettdecke auf den Holzboden gefallen war. Offenbar war sie am Abend beim Lesen eingeschlafen und hatte das Buch nicht mehr weggelegt. Das würde erklären, wieso sie die merkwürdigen Träume gehabt hatte. Von Chain. Sie hatte sehr intensiv von ihm geträumt. Hatte ihn am Strand beobachtet, wie der Wind in seinen Haaren spielte, wie er in den Wellen angelte und sich Fisch briet. Sie war ihm so nahe gewesen, dass sie ... dass sie ... Nein. Unmöglich. Ein Lächeln legte sich auf ihre Züge. Sie schloss die Augen, dachte an ihn, an den Traum und seufzte. Ein warmes Gefühl erfüllte sie. Chain hatte es geschafft, sie in seinen Bann zu ziehen.

      Sie warf die Bettdecke zurück, tapste ins Bad. Es war Dienstag. Der Tag, an dem ihre Eltern aus Wales zurückkommen würden. Endlich! Sie hatte es satt, mit Logan allein zu sein.

      Während sie Kaffee kochte und ihr Frühstück zubereitete, begann sie mit einem ihrer ungelesenen Bücher. Leider kein Mason. Aber sie hatte sich den Stapel für die Ferien vorgenommen und war durch Chain in Verzug geraten. Chain ...

      Lisanne biss in ein Käsebrot und hatte von der ersten Zeile an Schwierigkeiten, in die Geschichte zu finden. Er lenkte sie ab. Er ließ nicht zu, dass sie jemandem begegnete, der es schaffen könnte, ihr Herz zu gewinnen. Mit jedem Wort, das sie las, dachte sie an den Leuchtturm. An den Strand, an die Dünen. Sie sehnte sich danach, mit ihm aufs Meer hinauszuschauen, mit ihm durch den Sand zu spazieren, Teil seines Lebens zu sein, ihm Gesellschaft in der Einsamkeit zu leisten. Das Klingeln des Telefons riss sie aus den Tagträumen. Sie beeilte sich, damit Logan ihr nicht zuvorkam.

      „Hallo?“, fragte sie in die Muschel und beobachtete die Tür.

      „Bonjour, grande soeur“, hörte sie eine kichernde Stimme.

      „Shannon! Hi, wie geht es dir? Und lass den Blödsinn, du weißt genau, dass ich kein Französisch spreche.“

       „Oh, isch liebe Arles! Isch werde eiraten einen Franzosen und für immer ier bleiben.“

       „Du tickst nicht richtig. Jetzt sag schon, was gibt es, dass du in aller Herrgottsfrühe hier anrufst?“

       Lisannes Bein wippte unruhig auf und ab. Unruhig, weil sie ständig an Chain dachte und fürchtete, Logan könnte jeden Moment hereinkommen. Sie musste den Verstand verloren haben ...

      „Ich wollte mal hören, wie es Alf geht“, sagte ihre Schwester.

      „Na, wie soll es ihm schon gehen? Gut, natürlich. Aber das ist doch nicht der einzige Grund, oder?“

       „Was, darf ich nicht mal mehr zu Hause anrufen? Ich vermisse dich, was du offenbar nicht tust.“

      „Natürlich vermisse ich dich. Aber du hast die Zeit ja schon fast rum, also sehen wir uns bald wieder. Macht es denn Spaß, dein Auslandsjahr?“

       „Klar.“ Shannon druckste herum, wie sie es immer tat, wenn sie eine Überraschung so lange wie möglich zurückhalten wollte. Dann platzte es aus ihr heraus: „Stell dir vor, Ma hat gestern angerufen. Dad und sie überlegen, ihren ‚Urlaub‘ auszuweiten und mich zu besuchen! Ist das nicht großartig? Unsere alten Herrschaften in der großen, weiten Welt, kannst du dir das vorstellen? Wo sie doch ihr Grande Bretagne noch nie verlassen haben!“

      Lisanne blieb die Spucke weg. In Gedanken ging sie die vergangenen Tage durch und suchte nach irgendeinem Hinweis, den sie beim Lesen überhört haben könnte. Hatte sie doch mit Dad telefoniert, als sie aus der Badewanne gekommen war? Und es wieder vergessen, oder ein Buch in der Hand gehalten und es nicht mitbekommen? Hatten Ma und Dad ihr hundertmal gesagt, dass sie nach Frankreich fliegen würden und sie ... hatte es nicht mitgekriegt?

      „Tu es là?“

      „Was? Ich, ähm ... Sag das noch mal.“

      „Ma und Dad kommen nach Arles! Willst du nicht auch kommen? Ach, bitte! Es wird bestimmt lustig werden. Ich kann euch alles zeigen. Den Papstpalast, das Amphitheater, alles rund um Van Gogh, ...“

       „Ja!“, rief sie, so laut es ging. „Ich bin dabei! Das wäre ja gelacht, wenn die mich noch mal vergessen. Das mit Tante Maggie nehme ich ihnen sowieso übel! Diesmal fahre ich mit! Wann wollen sie kommen?“

      Shannon juchte vor Freude. Sollte Logan sich doch um die Pferde und den Rest kümmern. Tiere hatten es ihm ohnehin mehr angetan als Menschen.

      „Sie haben was von einem Flug am Donnerstag gesagt. Am besten besprecht ihr das heute Abend, wenn sie zurückkommen. Oh, ich freu mich so, Lisanne! Hör zu, knutsch meinen Alfie von mir. Ich muss Schluss machen. Meine Gastmutti läuft schon ganz nervös vor meinem Zimmer auf und ab. Am Ende muss ich die Telefonrechnung noch mit Geschirrspülen abarbeiten. Ich hab dich lieb!“

       „Ich hab dich auch lieb! Also dann bis Donnerstag.“

      Es war ein Tag zum Träumen, wie sie es nannte, wenn die Sonne den Himmel in reinem Blau erstrahlen ließ. Wenn eine Sommerbrise über die Felder wehte und den Duft der Wildblumen mit sich trug. Wenn die hohen Gräser und Sträucher im Wind raschelten und die raue Gischt vom Meer herauf spritzte. Lisanne schaute aus dem Fenster, nahm jedes Detail in sich auf. Ihr Blick ging über die hintere Koppel, die sich bis zum Sumpf erstreckte. Sie entdeckte die Pferde. Finlay jagte übermütig im Galopp durch das Gras, Alfie folgte ihm, während ihre Mähnen und Schweife im