Lisanne. Julia Beylouny. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Julia Beylouny
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847619697
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kam direkt auf sie zu. Es krachte und knirschte. Glas zersplitterte. Kathys Fuß verkeilte sich mit dem Gaspedal, sodass ihr Wagen sich immer tiefer in den schlammigen Morast einarbeitete. Schmerz. Sie schmeckte Blut. Die Räder drehten durch.

      Stille.

      Kapitel eins

       Lisanne

      Der See, auf den sie hinaus ruderte, war wunderschön: ein geheimnisvoller Weiher im Schilf. Sanfte Wellen brachen sich am Rumpf des Bootes, während Lisanne die Paddel in gleichmäßigen Abständen ins Wasser eintauchte. Sie vergaß die Zeit, warf den Köder ihrer Angel über Bord und lehnte sich zurück. Ihr Blick durchdrang den aufsteigenden Nebel am Ufer, wo sie die Umrisse des Herrenhauses erahnte. Frösche quakten, Grillen zirpten, und manchmal verfielen sie für kurze Zeit in denselben Rhythmus. Mücken schwebten dicht über der Wasseroberfläche. Dann sah sie seine Silhouette, die durch das Riet wandelte. Lisannes Sinne richteten sich nach ihm aus. Ein hochgewachsener, schlanker junger Mann. Seine Bewegungen waren fließend, seine Gestalt fügte sich harmonisch in das verwunschene Ufergemälde ein.

      Zeile für Zeile sprang ihr in die Augen, wurde lebendig, verwandelte sich in bunte Bilder. Lisanne verkostete Wort für Wort, schmeckte die Schwere der feuchten Luft, den Geschmack des Spätsommers in den Südstaaten, sah die Villen im Kolonialstil, die Veranden mit ihren knarrenden Holzdielen. Sie war dort. In einer anderen Realität. Bis eine Stimme sie zurückpfiff und das Band der Träumereien zerschnitt.

      „Hörst du mir überhaupt zu?“

      Ein Schatten hatte sich über die Holzbank im Garten und über Lisannes Gesicht gelegt.

       „Doch, doch, ja, hmhm“, murmelte sie und ließ das Buch in ihren Schoß sinken. Ihre Mutter stand mit in die Seiten gestemmten Händen vor ihr.

      „Gut, dann weißt du ja Bescheid. Es tut mir leid, weil du doch gestern erst angereist bist. Übrigens ist Breda in der Küche. Sie kocht für morgen.“

       „Okay, kann ich dann weiterlesen?“

      „Tu, was du nicht lassen kannst.“

      „Danke, Ma. Du hast keine Ahnung, wie sehr ich mich auf die Ferien bei euch gefreut habe. Und auf meinen STUB, der unbedingt abgearbeitet werden muss.“

       „Deinen was?“

      Lisanne lachte. „Stapel ungelesener Bücher.“

      Ma schüttelte den Kopf und verschwand durch die Rosenhecke zum Haus. Gleich darauf lag der goldene Glanz der untergehenden Sonne auf Lisannes Gesicht. Sie schloss die Augen und lauschte der Stille. Für den Moment war sie aus dem Boot gestiegen, hatte sich an Land begeben und die Angel beiseite gelegt. Es war schön, nach der langen Zeit wieder daheim zu sein. Sie hatte das Landleben vermisst. Das fröhliche Gezwitscher der Vögel, das Muhen der Kühe, das Gefühl, dem feinen Rasen beim Wachsen zuzuschauen. London war laut, dreckig und oft zu grau. Wildflowers Hill und Little Bree Isle dagegen – ein Paradies. Lisanne liebte die Romantik des alten Farmhauses mit den angrenzenden Stallungen, den urigen Garten, den geschwungenen Pattweg, der sich bis zum Törchen durch die wilden Blumen schlängelte.

      Das Klingeln ihres Handys riss sie aus der stillen Bewunderung.

      „Ja?“, fragte sie in die Muschel.

      „Heyho! Bist du wieder im Land?“

      Sie lächelte und freute sich, die Stimme ihrer besten Freundin zu hören.

      „Hallo, Jill! Ja, ich bin gestern angekommen, habe es aber noch nicht geschafft, mich bei dir zu melden. Was machst du so?“ Das Buch wanderte von ihrem Schoß auf die Holzbank.

      „Es ist Juni. Die Sonne scheint mal etwas länger als zwei Stunden“, bemerkte Jill scherzhaft. „Haben Finlay und du heute Abend noch was vor? Sonst kommt doch vorbei. Bernie ist total unausgeglichen. Wir vermissen euch!“

      „Toller Gedanke! Aber ...“

      „Was, aber?“

       Lisanne warf einen wehmütigen Blick auf ihr Buch.

      „Ich hatte gehofft, meinen Stapel Mitbringsel hier zu verkleinern. Aber du hast recht. Ich habe Fin auch vermisst.“

       „Mitbringsel? Lass mich raten: Mason.“ Jills Stimme klang furchtbar gelangweilt.

      „Was für eine Frage, hm? Das Haus am See hab ich Anfang der Woche durch. Ob du es glaubst oder nicht, das ist momentan mein einziger Mason. Er lag ganz unten, was den Stapel angeht. Die anderen Bücher schiebe ich schon seit Wochen vor mir her. Und plötzlich hat er sich vorgedrängt ...“

      Ihre Freundin lachte. Sie hatte für Literatur nicht halb so viel übrig wie Lisanne.

       „Schwingt euch rüber, ihr zwei. Dann verrate ich dir was. Du wirst mich lieben!“

      Auf dem Weg zum Stall winkte Breda ihr durch das gekippte Küchenfenster zu. Lisanne winkte zurück und rief in Richtung der alten Frau: „Ich treffe mich mit Jill. Wir reiten aus. Wie lange bist du noch hier?“

      „Nicht mehr sehr lange, kleine Miss. Ich lasse euch für heute Abend etwas Suppe auf dem Herd stehen. Den Rest bringe ich für morgen runter in den Keller.“

      „Danke, Breda.“

       Die nette, alte Dame ging Ma oft und gern zur Hand. Lisanne mochte sie. Breda gehörte seit vielen Jahren zum Inventar. Im Stall sprang die Melkmaschine an. Das monotone Brummen des Motors wirkte vertraut. Dad war pünktlich wie ein Uhrwerk. Lisanne freute sich auf den Abend mit ihren Eltern. Und auf den ganzen Sommer.

       „Hey, Finlay“, begrüßte sie den Braunschecken mit leicht gesenkter Stimme, als sie den Pferdestall betrat. Sogleich schauten Fin und Alfie neugierig aus ihren Boxen. Ein paar Mädchen aus dem Dorf hatten die Painthorses als Pflegepferde adoptiert, seitdem Lisanne in London studierte und Shannon in Arles war. Sie klopfte den Tieren die breiten Hälse und bot ihnen Karotten an. Der Stallgeruch war unverändert herb, erinnerte Lisanne an die Heuernte. Oben auf dem Holzboden stapelte Dad seit jeher die Strohbunde. Halfter und Stricke hingen ordentlich an der Wand, ebenso die Westernsättel und -pads. Warmer Pferdeatem mischte sich mit dem Duft des Frühlings in Cornwall. Lisanne lauschte dem leisen Knacken und Schmatzen der Pferde, als sie die Karotten verputzten. Sie wuschelte Alfie und Fin durch die zottligen Mähnen und freute sich auf Jill.

      „Tut mir leid, Alf. Shannon wirst du wohl nicht so bald wiedersehen. Aber vielleicht reiten wir zwei auch mal aus.“

       Sie führte Finlay aus der Box heraus, zäumte ihn auf und schwang den Sattel auf seinen Rücken.

      Der Abend war mild und wolkenlos. Kühle, salzige Luft strömte vom Meer über die Klippen hinweg und sprühte die Gischt über das Land’s End. Jill hatte auf ihrer Irish Cob Stute nahe der westlichen Monolithen auf Lisanne gewartet. Von dort aus ritten sie in die Bucht hinunter und trabten durch den im Dämmerlicht dunklen Sand. Lisanne schloss die Augen, genoss das Salz, den Geruch von Pferdeschweiß in der Luft. Sie war lange nicht mehr ausgeritten und bereute es, sich für den Sattel entschieden zu haben. Für gewöhnlich nahm sie nur ein Pad – oder gar nichts. Der Sattel hinderte sie daran, sich auf Finlays Bewegungen einzulassen. Er ließ keinen Körperkontakt zum Bauch zu, wo sie ihre Waden hätte anschmiegen können. Er verlieh ihr ein Gefühl von falscher Sicherheit.

      „Und, wie sind die Jungs in London?“, rief ihre Freundin herüber.

      „Jungs? Was ist das? Eine Londoner Spezialität?“

      Jill rollte die Augen.

      „Du meine Güte! Ein Jahr bist du nun weg und hast immer noch kein Interesse an dieser Spezies gefunden. Wo soll das noch enden? Stattdessen steckst du deine Nase viel zu tief zwischen die Pappdeckel deiner Bücher.“

      „Naja, was heißt Interesse?“ Lisanne schaute über die schaumgekrönten Wellen und ließ Finlay in einen leichteren Trab übergehen. „Ich will nicht irgend einen, verstehst du? Ich warte auf den Richtigen.“