Die Abgrenzung bzw. Parallelbildung von Orientalismus und Balkanismus mag in manchen Aspekten Sinn machen, andererseits gibt es auch etliche Überschneidungen, so dass man den Balkan durchaus historisch als ‚Kontaktzone mit dem Orient‘ definieren könnte. So ist denn auch Milica Bakić-Haydens Konzept der „Nesting Orientalisms“13 als Vermittlungsversuch anzusehen: Es geht von einem nahezu universellen Kulturrelativismus aus, innerhalb dessen nahezu jedes soziale Kollektiv zwischen Europa und Asien eine Tendenz dazu habe, Kulturen südlich oder östlich als primitiver oder zumindest konservativer anzusehen. (In dieser Optik würde Österreich-Ungarn etwa seine Südost-Flanke ‚orientalisieren‘, aber seinerseits selbst quasi zum Halborient anderer Staaten werden.)
Trotz der vielfältigen Kritik und Überarbeitungsversuche der Orientalismus- und Balkanismus-Hypothese ist jedenfalls einzuräumen, dass diese sich durchaus als kritisches tool von Forschungsprojekten bewährt haben, die freilich auch zur Nunancierung und fine tuning dieser Konzepte beigetragen haben. Dies wird sich wohl in Hinblick auf das Bosnien-Korpus des vorliegenden Buch noch beweisen müssen (s. Abschnitt C.), was aber auch die Trennung von Balkanismus und Orientalismus infrage stellen dürfte (beim Verhältnis beider Diskurse handelt es sich m.E. wohl eher um eine komplexes Ineinander unter dem Vorzeichen des „osmanischen Erbes“14 als um Alternativen). Zuvor empfiehlt sich freilich noch ein kritischer Rück- und Ausblick auf die Aachener Schule und andere Fachdisziplinen, sowie eine Einführung zu Homi Bhabhas Stereotypen-Begriff und seiner Anwendung, ehe an ein vorläufiges Resümee in Bezug auf die andiskutierten Problemstellungen zu denken ist.
5. Projekt & Aporie der Aachener Schule
Die zu Beginn (Kap. A.2.1.) unternommene Skizze zur Vorgeschichte der Imagologie und ihres Gegenstandes hätte wohl mit der Feststellung enden müssen, dass diese komparatistische Subdisziplin allem Anschein nach entweder in Verruf oder Vergessenheit geraten ist1 – oder beides – und auch von einer gegenwärtig boomenden Bildwissenschaft nicht wirklich wieder aufgegriffen wurde. Zu diesem Trend mögen die mangelhafte bis aporetische theoretische Reflexion der Aachener Schule und ihrer Kooperationspartner in Verbund mit einer positivistischen Vorgehensweise beigetragen haben, die zwar eine große Anzahl an Themen für Hausarbeiten und Dissertationen abwarf (‚Das Bild von X in Y‘),2 ohne dass einigermaßen klar wurde, welchem Zweck die Auflistung vorhandener historischer Bilderwelten dienen sollte. Die Diskrepanz zwischen gründlicher empirischer Bestandsaufnahme und theoretischem Defizit sei darauf zurückzuführen, „daß sich die Forschung in erster Linie auf das Sammeln der Stereotypen und auf deren nachträgliche Korrektur konzentriert hat“, monierte etwa Michael Jeismann 1991.3 Zudem erschien die Imagologie zu Zeiten einer (voreiligen?) Obsolet-Erklärung des nationalen Paradigmas vielen als „futile flogging of dead horses“:4 Eine der Kernerkenntnisse der Nachkriegssoziologie, nämlich dass ein Individuum durch diverse Gruppenzugehörigkeiten mehrere soziale Rollen innehat, hat ja die Annahme einer einzigen (ethnisch formulierten) Kollektividentität fragwürdig gemacht.5
Im Zentrum der Kritik steht aber jene ästhetische Vermittlungsproblematik, die bereits Wellek in seinem bashing angesprochen hatte und die seither immer wieder formuliert worden ist.6 „Unser Thema liegt etwas am Rande der Literaturwissenschaft, und zwar auf der Grenze zwischen Literaturgeschichte und Soziologie“, schrieb Hermann Meyer in seiner Studie zum Holländer-Bild in der deutschsprachigen Literatur (1963), was zu einer „doppelte[n] […] Zielsetzung“ führe:7
1) „Welchen Anteil hat die Literatur am sozialen Prozeß der Ausbildung des allgemeinen Bewußtseinsinhalts, der das Bild vom anderen Volke ist?“
2) „Was ist die literarische Seinsweise eines solchen in der Dichtung auftretenden Bildes, wie funktioniert es in der Dichtung?“8
Ähnlich sah auch Thomas Bleicher 1980 „zwei Schwierigkeiten: zum einen erscheint das Image-System in einem einzelnen literarischen Werk nicht vollständig, allenfalls in mehr oder weniger großen System-Ausschnitten, zum andern schließt das Image-System in sich Faktoren ein, die eine literaturwissenschaftliche Untersuchung von vornherein überschreiten.“9 Außerdem reproduziere Literatur nicht einfach images, sondern sie habe in ihrer konkreten ästhetischen Ausformung ebenso die Fähigkeit zur Hinterfragung und Subversion von bestehenden Bilderwelten, zu „Image-Ausgleich oder -Aufhebung“.10 Ganz in diesem Sinne hatte Manfred Fischer, Mitglied der Aachener Schule und Assistent Dyserincks, 1979 die folgenden drei Forschungsperspektiven entwickelt:
1. die „Historizität national-imagotyper Systeme“;11
2. nationale images als „Elemente komplexer und übernationaler historischer Wechselbeziehungen sowie das Problem ihrer Konstanz und Universalität“;
3. nationale images „als Strukturelemente eines ästhetischen Kontextes“.12
In Reaktion auf Welleks Vorwürfe, schrieb Fischer später, bedürfe es „einer strikten Berücksichtigung der ursprünglich spezifischen Seinsweise dieser Bilder sowie jener ästhetischen Funktion, die ihnen als kontextuellen Strukturelementen literarischer Kunstwerke ursprünglich zufiel.“13 Denn „[j]ede angestrebte Entideologisierung nationaler Bilder, jede nachhaltige Aufklärung über ihre Unzulänglichkeit setzen eine gewissenhafte Aufarbeitung ihrer Geschichte voraus. […] Die historische Analyse bleibt indessen zur Unwirksamkeit verdammt, solange sie sich im Aufzeigen einzelner Entwicklungsetappen“ erschöpfe oder ‚wahr‘/‚falsch‘ als Kriterien für die Bewertung der images anlege.14
Damit wird der positivistischen Katalogisierung entsprechender literarischer bzw. kultureller Selbst- und Fremdbilder, wie sie in früheren imagologischen Arbeiten erfolgte, eine Absage erteilt – vor allem dort, wo diese „zur Konstruktion einer falschen Totalität verführt“:15 Jene Vorgehensweise zeigt sich nämlich zusätzlich durch die Literaturtheorie der letzten Jahrzehnte (wie beispielweise Umberto Eco, Jacques Derrida und Paul de Man) verunmöglicht, die auf die prinzipiell offene, unabschließbare, ja ambivalente ästhetische Struktur von im weitesten Sinne ‚literarischen‘ Texten hingewiesen hat, welche eine Verallgemeinerung im Sinne von historischen „Entwicklungsetappen“ hintertreibt. Was also Not tut, ist eine spezifische Analyse einzelner Texte, die ihre Eingebundenheit in ‚real‘-historische Kontexte als Intertextualität von Diskursen begreift, die einer rhetorischen Analyse zugänglich ist.16 Dazu sind indes noch weitere Einsichten in die Funktionsweise des kulturellen Fremd- und Selbstbildes nötig, wie sie andernorts erarbeitet wurden – auch wenn in Anschluss daran der Vorwurf zu entkräften ist, es werde fahrlässig sozialwissenschaftliches und -psychologisches Wissen in die Text- und Kulturwissenschaften transferiert, ohne auf die Eigengesetzlichkeit ästhetischer Bedeutungssysteme Rücksicht zu nehmen.
6. Sozi(alpsych)ologische Stereotypen-Forschung nach Lippmann
For the most part we do not first see, and then define, we define and then see.1
The way in which the world is imagined determines at any particular moment what men will do.2
[…] whatever we believe to be a true picture, we treat it as if it were the environment
itself.3
Dies sind drei kurze, aber repräsentative Zitate aus Public Opinion (1922), einem eher essayistischen, aber impulsgebenden Werk des amerikanischen Publizisten Walter Lippmann, mit dem eine sozi(alpsych)ologische Erforschung der Stereotypen ihren Anfang nahm.4 Lippmann bezeichnet sie als „the pictures in our head“,5 die dem Akt der Wahrnehmung vorausgehen und ihn soziokulturell