Habsburgs 'Dark Continent'. Clemens Ruthner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Clemens Ruthner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783772000539
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der Zuschreibungen, für die Florack ein griffiges Beispiel angeboten hat:

      Daß sich Agrippas [von Nettesheim, C.R.] Katalog nationaler Eigenschaften wörtlich in Luthers ‚Handpsalter‘ wiederfindet und, um die Engländer ergänzt, mehr als zweieinhalb Jahrhunderte später noch in Goethes Notizen zur Vorbereitung einer zweiten italienischen Reise, ist ein Indiz für die Hartnäckigkeit dessen, was wir heute als Stereotype bezeichnen.29

      Seit der Mitte des 19. Jahrhundert hätten sich dann, so Pochat, ethnotype images und „nationalistische Tendenzen […] immer wieder, manchmal in verhängnisvoller Weise, durchgesetzt.“30 Eine national geprägte Kunst- und Kulturgeschichte etwa beruhe

      auf der Annahme, daß sich der Charakter eines Volkes oder Stammes äußeren Stilimpulsen zum Trotz stets durchsetzt. Zu der früheren, imagologisch bedeutsamen Klimalehre tritt nun die völkische Komponente hinzu.31

      Pochat bezieht sich hier ganz offenkundig auf die Entdeckung des „Volkes“ und seiner „Kultur“ bei Herder und den Romantikern, aber vor allem auf die pseudowissenschaftliche Formatierung nationaler Selbst- und Fremdbilder unter dem Eindruck der Völkerpsychologie im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert, diese versucht, nationalen Kollektiven genauso wie dem Individuum gewisse psychische Eigenschaften (den „Volksgeist“) gleichsam als „cultural DNA“32 zuzuordnen – wie dies etwa in Wilhelm Wundts gleichnamigem Monumentalwerk von 1900–1920 der Fall ist. Diese Zuschreibungen erweisen sich freilich eingebunden in andere Diskurse wie Nationalismus, Rassismus und (Sozial-)Darwinismus.33

      Hans Bayerdörfer und seine Mitherausgeber sehen im 19. Jahrhundert ein groß angelegtes „Erfassungsprojekt […] des Fremden im Äußeren und Inneren der Staaten“ im Gange,34 das – wie Hartmut Kaelble schreibt – dieses ab dem Vorabend des Ersten Weltkriegs „nicht mehr in Kategorien der ‚Kultur‘, sondern in Kategorien von ‚Rasse‘ zu fassen“35 versucht. Ebenso eröffnen neue visuelle Medien neue Möglichkeiten für einen exotistischen „Konsum“, wie auch das fotografische Bild half, die Fremden „als stumme Zeugen einer realen oder fiktiven Begegnung“ zu fixieren.36

      Mit den biologistischen Festschreibungen von „Rasse“, „Volk“ und „Geschlecht“, die mit dieser Wissensformation37 einhergehen, gewinnt der europäische Imperialismus jedenfalls ein wichtiges rhetorisches Werkzeug: die diskriminierende Bewertung und Hierarchisierung kultureller Differenz. Dieses diskursive Instrument wird denn auch im Rahmen jener kolonialistischen Expansionsprojekte im 19. Jahrhundert eingesetzt, um die „Inferiorität“ außereuropäischer Völker und den daraus resultierenden „Bedarf“ nach „Zivilisierung“ – die bereits mehrfach erwähnte mission civilatrice – zu begründen und als Topos festzuschreiben. Damit entstehen „Ordnungen der Fremdheit“ (Herfried Münkler), „in denen geregelt ist, wie mit den unterschiedlichen Typen bzw. Graden von Fremdheit umzugehen ist“: Neben Inklusion und Exklusion gebe es eine Fülle von hybriden Zwischenformen wie etwa „Semiinklusion und Seklusion“.38 (Hier wäre etwa an die Rassetafeln des hispanischen Kolonialismus in Lateinamerika zu denken oder die rassistische Einteilung der Bevölkerung nach den arbiträren Kriterien der NS-Ideologie, die anders etwa als die religiösen Gesetze des Judentums „Mischlinge ersten und zweiten Grades“ kennt.)

      Nach dem genozidalen Höhepunkt ethnischer bzw. ‚rassischer‘ Typologien im Umfeld der beiden Weltkriege bzw. der totalitären Staatsprojekte des 20. Jahrhunderts ist in der Postmoderne ein gewisses Abflauen, die Tabuisierung, aber auch künstlerische Ironisierung (ironic turn39) der Stereotypen zu bemerken, woran etwa der erwähnte Film Borat teilhat. Mit den politischen Wendezeiten in Zentral- und (Süd-)Osteuropa nach 1989 lässt sich freilich wieder eine massive Rückkehr traditioneller Selbst- und Fremdbilder in den Diskursen diverser Neo-Nationalismen verzeichnen, die häufig rassistisches Gedankengut enthalten.40 So ist dem Befund des koreanisch-deutschen Philosophen Byung-Chul Han von der „Austreibung des Anderen“41, d.h. seinem Verschwinden in einer nivellierenden Ästhetik und Ideologie des Gleichen, keineswegs zustimmen.

      4. Orientalismus & Balkanismus

      Aufgrund der besonderen Relevanz der latent imagologisch vorgehenden Analysen des Orientalismus bei Edward Said bzw. des Balkanismus bei Maria Todorova für den kritischen Diskurs eines externen wie internen europäischen Post/Kolonialismus sollen diese im Folgenden kurz im Einzelnen präsentiert werden, ohne dass freilich über diese Skizze hinaus irgendein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden könnte; immerhin sind zur Metakritik der beiden kritischen Theorien diverse Aufsätze, ja Bücher veröffentlicht worden, auf die beide Autoren auch selbst reagiert haben.1

      Saids paradigmenbildende Orientalism-Monografie von 1978 geht von der These aus, dass die wissenschaftliche und reiseliterarische Erschließung der islamischen Welt im 18. und 19. Jahrhundert diese nicht neutral abgebildet, sondern eher im Stile einer Projektion des Selbstbild-Negativs einen phantasmatischen Raum geschaffen habe:

      Unlike the Americans, the French and British – less so the Germans, Russians, Spanish, Portugese, Italians, and Swiss – have had a long tradition of what I shall be calling Orientalism, a way of coming to terms with the Orient that is based on the Orient’s special place in European Western experience. The Orient is not only adjacent to Europe; it is also the place of Europe’s greatest and richest and oldest colonies, the source of its civilizations and languages, its cultural contestant, and one of its deepest and most recurring images of the Other. In addition, the Orient has helped to define Europe (or the West) as its contrasting image, idea, personality, experience. Yet none of this Orient is merely imaginative. The Orient is an integral part of European material civilization and culture. Orientalism expresses and represents that part culturally and even ideologically as a a mode of discourse with supporting institutions, vocabulary, scholarship, imagery, doctrines, even colonial bureaucracies and colonial styles.2

      Dieser imaginäre ‚Orient‘ diente jedoch nicht nur als Legitimation diverser nationaler Kolonialismen in Europa und zugleich – individuell – der phantastischen „Flucht vor der Entfremdung eines sich rasant industrialisierenden Westens, sondern auch als Metapher für das Verbotene“, resümiert Maria Todorova in ihrer Diskussion von Saids Thesen.3 In ihrer eigenen, 1997 erstmals auf Englisch erschienenen Studie Imagining the Balkans hat die bulgarisch-amerikanische Historikerin unter Bezugnahme auf Vorarbeiten anderer regionaler Forscher/innen4 die Theorie formuliert, dass es als Parallel- und Gegenbegriff zum Orientalismus die Kategorie des „Balkanischen“ gebe, die der Region Südosteuropa, deren „ethnische Komplexität“ sich für externe Beobachter/innen zugleich als die „frustrierendste Eigenschaft“ erweise,5 eine uniform fremde Identität zuschreibe: Dieses label werde

      neben anderen verallgemeinernden Schlagworten benutzt, von denen ‚orientalisch‘ das am meisten verwendete war, um Dreck, Passivität, Unzuverlässigkeit, Weiberfeindschaft, Neigung zu Intrigen, Unredlichkeit, Opportunismus, Faulheit, Aberglauben, Lethargie, Schlaffheit, Ineffizienz oder inkompetente Bürokratie zu klassifizieren. ‚Balkanisch‘ wies zusätzliche Charakteristika auf, während es sich mit ‚orientalisch‘ überschnitt, wie etwa Grausamkeit, Rüpelhaftigkeit, Instabilität und Unberechenbarkeit. Beide Kategorien wurden gegen die Vorstellung von Europa verwendet, das Sauberkeit, Ordnung, Selbstbeherrschung, Charakterstärke, Gespür für das Gesetz, Gerechtigkeit und effiziente Administration symbolisierte […].6

      Was anhand dieser Aufstellung deutlich wird, ist, wie stereotype Diskurse kulturelle Werthierarchien durch ihre latente Gegenüberstellung des Eigenen transportieren und propagieren. Im Gegensatz zu anderen Forscher/inne/n besteht Todorova freilich darauf, „Balkanismus“ als Stereotypen-Cluster nicht als Unterkategorie oder Spezialfall des Orientalismus zu betrachten – wie man dies ja angesichts der langen Zugehörigkeit großer Teile des Balkans zur „europäischen Türkei“ im Spätmittelalter und in der Neuzeit durchaus könnte: „Balkanismus entstand zu einem großen Teil unabhängig vom Orientalismus und in gewissen Bereichen dagegen oder dessen ungeachtet“.7 Als Unterschiede zwischen beiden werden folgende Facetten nominiert: Im Gegensatz zum ‚weibischen‘ Orientalen sei der Balkan als männlich und vorwiegend christlich kodiert, als tribalistisch, gewalttätig grausam, intrigant, unübersichtlich.8 Weiters nennt Todorova die