Die ersten 100 Jahre des Christentums 30-130 n. Chr.. Udo Schnelle. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Udo Schnelle
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846346068
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in Jerusalem ist der Thron Gottes, hier nimmt Gottes Königtum Wohnung (vgl. Jes 8,18; 1Kön 8,12ff; Ps 9,12; 74,2; 76,3; 132,13), hier erscheint er und lässt sich begegnen (vgl. Ex 29,43–45). Ebenso ist der Tempelberg der ‚heilige Berg‘ (vgl. Ps 2,6; 48,3) und Jerusalem die ‚heilige Stadt‘ (vgl. Jes 48,2; 52,1; Neh 11,1.18) und die ‚Stadt Gottes‘ (vgl. Ps 46,5; 48,2.9; 87,3). Seit der persischen Zeit wird der Sabbat zunehmend zum zentralen Zeichen jüdischer Identität175. Die relativ kurzen Ausgangstexte Ex 23,10; 34,18–23;35,1–3 (vgl. ferner Ex 16,23–30; Lev 25,1–7) wurden im Rahmen einer vornehmlich priesterlich-rigoristischen Interpretation immer mehr ausgeweitet, wie exemplarisch ein Vergleich von Jub 50; CD 10,14–11,18 und dem Mischnatraktat Schabbat zeigt. Aus der von Gott gebotenen Ruhepflicht am 7. Tag entwickelte sich nach und nach ein umfangreiches Regelsystem; so wurden in Schabbat VII 2 ‚vierzig weniger eins‘ verbotene Hauptarbeiten aufgelistet.

      Mit der am Monotheismus, der Erwählung und der Tora orientierten theologischen Grundkonstruktion verbinden sich im Judentum zwei wirkmächtige geistige Strömungen, die auch das frühe Christentum beeinflussten: Apokalyptik und Weisheit.

      Apokalyptisches Denken

      Die Apokalyptik ist gleichermaßen ein geistiges und literarisches Phänomen, das vor allem zwischen 200 v.Chr. und 100 n.Chr. das jüdische, aber dann auch das frühchristliche Denken stark prägte176. Apokalyptik (images = „Offenbarung/Enthüllung“) ist eine bestimmte Art und Weise, mit Hilfe jenseitiger Erkenntnis Geschichte zu interpretieren, die in Apokalypsen ihren literarischen Niederschlag findet177. Die Grundannahme ist die Vorstellung, dass Idealgestalten der jüdischen Geschichte eine außerordentliche Einsicht/Erleuchtung/Offenbarung erhielten, die Gottes Plan für die Zukunft enthüllen und in Schriften für die Orientierung späterer Generationen niedergelegt wurden. Man wähnt sich am Ende der Tage und erhofft Gottes baldiges Eingreifen, um die Dinge grundlegend zum Guten zu wenden. Zur Matrix des apokalyptischen Denkens zählen: 1) Pseudepigraphie als Inanspruchnahme legendärer Gestalten der Vergangenheit (z.B. Henoch, Baruch, Mose, Esra), um so das neue Wissen zu legitimieren; 2) Visionen mit Offenbarungen über die Geschichte (vornehmlich des jüdischen Volkes); 3) Himmelsreisen und Jenseitsschilderungen, die dem Apokalyptiker gewährt werden; 4) Geschichtsüberblicke, die häufig auf einem weisheitlich-periodischen Geschichtsdenken basieren, wonach die Bedrängnisse der Gegenwart von den Freuden der Zukunft abgelöst werden; 5) die Hoffnung auf eine Wende in der Geschichte hin zu einem Endzustand, der dem Urzustand entspricht; 6) eine lebhafte und bunte Bildersprache, die teilweise verschlüsselt ist und nur von der eigenen Gruppe verstanden werden soll; 7) Paränese und Paraklese, die vor allem darauf zielen, den Versuchungen der Gegenwart zu widerstehen; 8) Gebete um Hilfe und Rettung aus der gegenwärtigen Situation, die als Endzeit/letzte Zeit verstanden wird; 9) Zuschreibungen der eigenen Erwählung und der Verwerfung anderer, die sich häufig mit deterministischen und dualistischen Aussagen verbinden; 10) die Erwartung zukünftiger Heilsgestalten, die oft in einer Art Endkampf widergöttliche Mächte/eschatologische Gegenspieler überwinden und von Gott in eine Herrscherposition (z.B. Menschensohn; Messias) eingesetzt werden. Apokalyptik ist gleichermaßen ein literarisches und theologisches Phänomen, das Geschichte deutet, indem wechselseitig die kommende Geschichte und die gegenwärtige Situation interpretiert werden. So entsteht ein umfassendes, teilweise verschlüsseltes Bild von Weltlauf und Weltende in Gestalt einer von Gott heraufgeführten Katastrophe.

      Haupttexte der jüdischen Apokalyptik sind: äthHenoch (= 1Hen: umfangreiche Sammlung der Henochliteratur, deren älteste Teile in die vormakkabäische Zeit zurückreichen); Daniel; Jesajaapokalypse (Jes 24–27); Jubiläenbuch; Himmelfahrt Moses; Sibyllinen, 4Esra; s1Henoch (= 2Hen), syrBaruch; Apokalypse Abrahams; Teile der Qumranschriften; grBaruch178. Zahlreiche Texte der Apokalyptik wurden im Laufe ihrer Tradierung weitergeschrieben und umgestaltet179. Motiv- und traditionsgeschichtlich fließen in der jüdischen Apokalyptik vor allem mit der Gestalt des Henoch verbundene und aus Ezechiel gespeiste Traditionen der Himmelsreisenden und Offenbarungsmittler sowie die vor allem mit Mose verbundene Sinaitradition ineinander.

      Schreiber als Traditionsgaranten

      Maßgebliche Träger der jüdischen Apokalyptik dürften die ‚Schreiber/Schriftgelehrten‘ gewesen sein, torakundige Gelehrte, zu deren Aufgaben die Auslegung der Tora, die Ausbildung von Schülern in der Tora und die Rechtssprechung nach der Tora zählten. Wahrscheinlich ab dem 4. Jh. v.Chr. bildete sich aus der Priesterschaft der Stand der ‚Schreiber/Schriftgelehrten‘, der in Esra seine idealtypischen Ursprünge sah (Esr 7,6.11: Esra als Schriftgelehrter und Priester). Jesus Sirach zeichnet um 180 v.Chr. ein Idealbild des weisen Schreibers/Schriftgelehrten (Sir 38,24–39,11), dessen Weisheit und Einsicht vor Gott und der Welt gelobt wird und der sich uneingeschränkt auf die Tora konzentriert. Die ‚Schreiber/Schriftgelehrten‘ gehörten in der Anfangszeit mehrheitlich zur niederen Priesterschaft, sie dienten der Tempelaristokratie (vgl. Sir 39,4), waren aber zugleich Träger der jüdischen Tradition und Wahrer der jüdischen Identität. Während sich die Tempelaristokratie – vor allem die Hohepriester und die ihm nahe stehenden Kreise der höheren Priesterschaft – der hellenistischen Assimilation öffneten oder sogar selbst Hellenisierung betrieben, distanzierte sich die Mehrheit der Schreiber/Schriftgelehrten davon180. Ihren Protest gegen die hellenistische Assimilierung formulierten Schreiber/Schriftgelehrte auch in Apokalypsen. So spricht Hen 12,4 („Henoch der Schreiber“) dafür, dass hinter der umfänglichen und über Jahrhunderte weiterentwickelten Henochliteratur Schreiber/Schriftgelehrten-Kreise standen (vgl. auch Jub 4,16.17). Auch Dan 1,4; 11,33; 12,3.10 weisen auf Schreiber/Schriftgelehrte als Trägerkreise hin. Sie gerieten wahrscheinlich vor allem seit dem Makkabäeraufstand in einen tiefgreifenden Konflikt, denn die Einzigartigkeit und Reinheit des erwählten Gottesvolkes stand nun auf dem Spiel und musste geschützt werden. Immer mehr Schreiber/Schriftgelehrte lösten sich vom Tempel und leiteten so die Öffnung für Nichtpriester ein. Apokalypsen sind deshalb in vielen Fällen auch Ausdruck und Mittel politischer Agitation, zunächst vor allem gegen die Seleukiden, später gegen die Römer (vgl. z.B. PsSal 2; 17; AssMos 7; 10,7–10).

      Die jüdische Apokalyptik ist ein bildungsmäßig anspruchsvolles Phänomen und wurzelt sowohl im prophetischen (Ansage und Enthüllung zukünftiger Geschehnisse) als auch im weisheitlichen (Pseudonymität, Naturbeobachtung, Auslegung von Traumgesichten, Berichte von Himmelsreisen, periodische Geschichtsschau) und priesterlichen Denken (Bewahrung des Erbes der Väter, Hochschätzung der Tora, idealer Tempel, kultische Reinheit, Kalenderfragen)181.

      Weisheit als Lebensklugheit

      Die jüdische Weisheitsliteratur182 gehört in den großen Bereich der altorientalischen Weisheitsliteratur, die vor allem in Ägypten und in Mesopotamien verbreitet war. Die Weisheit ist ein Bildungsphänomen, das Einsicht in alle wesentlichen Erfahrungszusammenhänge vermittelt und darauf zielt, sich positiv in die Gesetzmäßigkeiten des individuellen und sozialen Lebens einzuordnen. Die kluge Lebensführung ist eine Gabe Gottes (Sir 1,1–10) und zugleich eine menschliche Fähigkeit, die jedem offen steht (Sir 51,31–34). Grundthemen der Weisheit sind: Die Erkenntnis Gottes als Garant und Stifter der Weltordnung, das Verhältnis Weiser und Tor, Gerechter und Frevler in ihrem Tun und Ergehen; Armut und Reichtum; die rechte Zeit für ein glückliches Leben. Der Anfang der Weisheit ist nach Prov 9,10 „die Furcht des Herrn“, Quelle der Weisheit vor allem die Tora, die z.B. in Sir 24,23 und Bar 3,9–4,4 mit der Weisheit identifiziert wird (vgl. Ps 19,8; 119,98). Als literarische Gattung liegt die Weisheitsliteratur vorwiegend als Weisheitsspruch und den daraus entstandenen Spruchsammlungen vor. Diese wurden in Schreiberschulen gepflegt bzw. überliefert und richteten sich vor allem in den didaktischen Formen der Mahn- und Lehrworte auf den gesamten Bereich der Erkenntnis, Erziehung, Lebenseinstellung und Lebensführung. Wie die Apokalyptik ist auch die Weisheit nicht sauber von anderen Bereichen zu trennen, sondern weisheitliche Gedanken haben in fast alle Denk- und Überlieferungsformen jüdischen Denkens Einzug gehalten.

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