Jesus von Nazareth wurde zuallererst als Heiler wahrgenommen und sein Heilungs-Charisma begründete den Erfolg seines Wirkens182. Sowohl die Synoptiker als auch das Johannesevangelium stellen das erfolgreiche exorzistische und therapeutische Handeln Jesu in den Mittelpunkt ihrer Darstellungen183. Alle Kriterien der Frage nach Jesus (s.o. 3.1.2) lassen nur den Schluss zu, dass Jesus vor allem in den Dörfern rund um den See Genezareth als einflussreicher Heiler auftrat, von der überwiegend armen Bevölkerung verehrt wurde und Nachfolger um sich scharte.
3.6.1Das kulturgeschichtliche Umfeld
Wunderheiler sind (nicht nur) in der Antike ein allgemeines kulturgeschichtliches Phänomen. Das Auftreten Jesu vollzieht sich im Kontext von jüdischen und hellenistischen Wundermännern184. In den Qumrantexten finden sich im Zusammenhang einer ausgeprägten Geisterlehre deutliche Hinweise auf magisch-pharmakologische Praktiken und auf Beschwörungsriten zur Dämonenabwehr185. „Da sich die auf Dämonenaustreibungen hindeutenden Befunde aus Qumran der Herkunft nach als überwiegend nicht-essenisch erwiesen, sind die dort implizierten Heilpraktiken über die Qumrangemeinde hinaus für weitere Teile des zeitgenössischen Judentums repräsentativ.“186 In der frührabbinischen Überlieferung sind Choni der Kreiszieher und Rabbi Chanina ben Dosa von besonderer Bedeutung. Choni (1.Jh. v.Chr.) bewirkte durch das Ziehen eines magischen Kreises Regenwunder und wird sowohl in der rabbinischen Überlieferung als auch bei Josephus (Ant 14,22–24) erwähnt187. Chanina ben Dosa trat wie Jesus im 1.Jh. der Zeitenwende in Galiläa auf und wirkte offenbar vor allem als Wunderheiler (speziell als Gesundbeter), aber auch zahlreiche andere Wundertaten werden ihm zugeschrieben (Fernheilungen, Macht über Dämonen)188. Zudem überliefert das Mischnatraktat Aboth drei Aussprüche Chanina ben Dosas, die ihn „as a warm-hearted lover of men, a true Chasid“189 darstellen. Es ist wohl mehr als ein Zufall, dass die beiden bedeutendsten jüdischen Wundertäter des 1.Jh. in Galiläa auftraten. Die klimatischen und kulturellen Besonderheiten dieses Landes begünstigten offenbar die außerordentlichen Ereignisse, die in seinen Grenzen geschahen. Als eine eigenständige Erscheinung sind die jüdischen Zeichenpropheten des 1.Jh. n.Chr. zu werten190. In den Jahrzehnten vor dem Ausbruch des jüdischen Krieges traten nach Josephus in Palästina immer wieder Zeichenpropheten auf, die durch Endzeitwunder ihre (politischen) Ansprüche legitimieren wollten. Ein Prophet aus Samaria verhieß um 35 n.Chr. seinen Anhängern, dass er die verschollenen Tempelgeräte auf dem Garizim finden werde (Jos, Ant 18,85–87). Daraufhin ergriffen die Samaritaner die Waffen, um auf den heiligen Berg zu ziehen. Kurz nach 44 n.Chr. kündigte Theudas die Spaltung des Jordans an (Ant 20,97–99), was eine Wiederholung des von Josua und Elia überlieferten Jordanwunders gewesen wäre (vgl. Jos 3; 2Kön 2,8). Der Prokurator Fadus ließ Theudas enthaupten und tötete zahlreiche seiner Anhänger. Unter dem Prokurator Felix (52–60 n.Chr.) trat ein anonymer Prophet auf, der Wunder und Zeichen in der Wüste und damit einen neuen Exodus ankündigte (Ant 20,167–168; Bell 2,259). Ein aus Ägypten stammender Prophet führte seine Anhänger zum Ölberg und verhieß, dass die Mauern Jerusalems auf seinen Befehl hin zusammenbrechen würden (Ant 20,168–172; Bell 2,261–263; vgl. Apg 21,38). Wiederum griffen die Römer ein und töteten zahlreiche seiner Anhänger. Kennzeichnend für die Zeichenpropheten ist eine Kombination aus eschatologischen und politisch-sozialen Motiven: Die Wunder des Anfangs wiederholen sich in der Endzeit und sind als Beglaubigungszeichen die Initialzündung für weitere Ereignisse in der einsetzenden Heilszeit, zu denen auch die Befreiung des Hauses Israel von den Römern zählte. Jesus wurde von Gegnern nach Apg 5,36 als ein solcher Zeichenprophet verstanden und der Prozess der Römer gegen Jesus zeigt, dass sie Jesus von Nazareth dieser Kategorie zuordneten (s.u. 3.10.2).
Aus dem weiten Feld hellenistischer Wunderheiler/Wundertäter ist der neupythagoreische Wanderphilosoph Apollonius von Tyana von besonderer Bedeutung (gest. um 96/97 n.Chr.), dessen Biographie Anfang des 3.Jh. von Philostrat niedergeschrieben wurde191. Hinter zahlreichen legendären Ausschmückungen wird eine Gestalt sichtbar, die in abgeklärter philosophischer Souveränität über zahlreiche Fertigkeiten in allen damaligen Wissenschaftsgebieten verfügt, Demonstrations-, aber auch Heilungswunder vollbringt, Menschen vor vielfältigen Gefahren rettet und mit den Herrschenden der Zeit immer wieder in Konflikt gerät. Auffallend ist, dass sich nicht nur zu fast allen Heilungen und Wundern Jesu bei Apollonius Vergleichbares findet192, sondern auch ihr Anfang (wunderbare Geburt) und ihr Ende (Auferstehung und Erscheinungen) Parallelen bieten, so dass Jesus von Nazareth und Apollonius von Tyana durchaus als Parallelgestalten angesehen werden können193.
3.6.2Die Vielfalt des heilenden Wirkens Jesu
Die Exorzismen bilden das Zentrum des heilenden Wirkens Jesu194. Sie finden sich in allen Überlieferungsschichten, in der Logien- und der Erzähltradition, lassen zumeist kein nachösterliches Interesse erkennen und können in das Gesamtwirken Jesu eingeordnet werden195. Zudem zeigt die Beelzebul-Kontroverse196, dass wahrscheinlich schon zu Jesu Lebzeiten eine Kontroverse über die Herkunft seiner heilenden Fähigkeiten ausbrach: „Er hat den Beelzebul, und: Durch den Fürsten der Dämonen treibt er die Dämonen aus“ (Mk 3,22b). Jesus antwortet auf diesen Vorwurf mit einem Weisheitswort, wonach das Reich des Satans keinen Bestand haben kann, wenn es in sich gespalten ist. Sein eigenes erfolgreiches exorzistisches Wirken weist jedoch auf etwas ganz anderes hin: „Niemand kann aber in das Haus des Starken eindringen und seine Habe rauben, wenn er nicht zuvor den Starken gefesselt hat; dann erst wird er sein Haus ausrauben“ (Mk 3,27; vgl. Mt 9,34). Die grundsätzliche Entmachtung des Satans und die dadurch ermöglichte Wiederherstellung schöpfungsgemäßen Lebens war offensichtlich das Zentrum der Wirklichkeitserfahrung Jesu, die durch die Exorzismen zugleich hergerufen und bestätigt wurde. Darauf weisen neben Mk 3,27 vor allem die Vision Jesu in Lk 10,18 („Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen“)197, die Verbindung zwischen den Exorzismen und dem hereinbrechenden Reich Gottes in Q 11,20 und die Bitte im Vaterunser um die Befreiung vom Bösen (Mt 6,13b) hin. Der Kampf gegen das Böse bzw. den Bösen war der zentrale Inhalt der Lehre und des Handelns Jesu198. Er teilt damit Überzeugungen im antiken Judentum, wonach die Entmachtung des Teufels und seiner Dämonen ein Kennzeichen der hereinbrechenden Endzeit ist (vgl. AssMos 10,1: „Und dann wird seine [sc. Gottes] Herrschaft über seine ganze Schöpfung erscheinen, und dann wird der Teufel nicht mehr sein, und die Traurigkeit wird mit ihm hinweg genommen sein“; ferner TDan 5,10–13;TLev 18,12; Jes 24,21f; Jub 10,1.5; 1QS 3,24f; 4,20–22; 1QM 1,10 u.ö.). Die eigentliche Opposition zum Kommen des Reiches Gottes ist bei Jesus die Herrschaft des Satans. Angesichts des hereinbrechenden und in der Wundertätigkeit Jesu offenbar werdenden Gottesreiches199 werden Menschen nun von den sie unterjochenden Mächten des Satans befreit und wieder ihrer schöpfungsgemäßen Bestimmung zugeführt (vgl. Q 7,22f). Speziell die Exorzismen zielen auf die Wiederherstellung eines schöpfungsgemäßen Zustandes, sie sind Zeichen und Protest gegen die Unterjochung des Menschen durch das Böse (vgl. Lk 13,16: „Diese Tochter Abrahams aber, die der Satan seit 18 Jahren in seinen Banden hält, sollte am Sabbat nicht von ihrer Fessel befreit werden