3.7.1Jesus als Repräsentant des Gerichts Gottes
Wie der Täufer nimmt auch Jesus von Nazareth die geläufige Opposition ‚Israel – Heiden‘ nicht auf, sondern sieht ganz Israel vom Unheil bedroht.
Das Unheil über Israel
Jesu Heilsbotschaft richtet sich an ein Israel, das seine göttlichen Bundeszusagen verbraucht hat und dessen Erwählung zur Anklage wird. Das bezeugt das Doppelwort von den getöteten Galiläern und erschlagenen Jerusalemern (Lk 13,1–5): „… Meint ihr (etwa), sie seien vor allen Galiläern Sünder gewesen? Nein, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt, dann werdet ihr alle in gleicher Weise umkommen! Oder jene achtzehn, auf die der Turm in Siloah fiel und sie tötete, meint ihr (etwa), sie seien vor allen Bewohnern Jerusalems Sünder gewesen? Nein, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt, dann werdet ihr alle in gleicher Weise umkommen!“ Jesus entschränkt bewusst zwei Einzelereignisse aus einem isolierten Tun-Ergehen-Zusammenhang und stellt die Ereignisse in einen theologischen Horizont. Die Geschehnisse werden so zu einem Menetekel für ganz Israel, über das ebenso unerwartet und schrecklich das Unheil kommen wird, wenn es nicht umkehrt. Umkehr bedeutet für Jesus Zuwendung zu seiner Botschaft, Umkehr ist Hinwendung zu ihm.
Dieser besondere Anspruch wird auch in Q 11,31f sichtbar212: „Die Königin des Südens wird beim Gericht zusammen mit dieser Generation auferweckt werden, und sie wird sie verurteilen … Die Männer von Ninive werden beim Gericht zusammen mit dieser Generation auferstehen, und sie werden sie verurteilen …“ Jesus weist ‚diesem Geschlecht‘, d.h. ganz Israel als einheitlichem Gegenüber einen Schuldspruch im Gericht zu, es sei denn, sie kehren um und nehmen seine Botschaft an. Die Weherufe über die galiläischen Städte213 in Q 10,13–15 zeigen eine deutliche Verwandtschaft mit dem Königin des Südens/Ninive-Wort und sind nicht minder provokativ: „Wehe dir, Chorazim! Wehe dir, Betsaida! Denn wenn in Tyrus und Sidon die Machttaten geschehen wären, die bei euch geschehen sind, längst wären sie in Sack und Asche umgekehrt. Doch Tyrus und Sidon wird es erträglicher gehen im Gericht als euch. Und du, Kapernaum, wirst du etwa zum Himmel erhöht werden? Zum Totenreich wirst du hinabstürzen.“ Den heidnischen Städten Sidon und Tyrus galten zahlreiche atl. Gerichtsworte (vgl. Jes 23,1–4.12; Jer 25,22; 47,4; Ez 27,8; 28,21f; Joel 4,4); Jesus knüpft daran an und verfremdet geläufige Vorstellungen: Das Unheil wendet sich nicht gegen die Heiden, sondern gegen Israel. Kriterium ist das Verhalten gegenüber Jesu Wundertaten, die das Hereinbrechen des Reiches Gottes und damit auch Jesu Anspruch bezeugen. Über Kapernaum als Hauptort des Wirkens Jesu ist unter diesen Aspekten das Urteil bereits gefällt. Ähnlich drohenden Charakter haben das Völkerwallfahrtslogion Q 13,29.28 und die Parabel vom großen Gastmahl Lk 14,15–24/Mt 22,1–10 (s.o. 3.4.5), in denen ebenfalls die geläufige Vorrangsstellung Israels verworfen wird. Schließlich macht die endzeitliche Richterfunktion der Zwölf in Q 22,28.30 deutlich, dass die Stellung zu Jesus über das Ergehen im Gericht entscheidet.
Das Unheil über den Einzelnen
Der zweite große Bereich der Unheilsaussagen Jesu betrifft den einzelnen Menschen. Er steht im Hintergrund von Mt 7,1f („Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet …“), denn das kommende Gericht durch Gott ist die Motivation für das geforderte Verhalten. Eine große Schärfe gewinnt das Gerichtsmotiv in Q 17,34f: „Ich sage euch, zwei Männer werden auf dem Acker sein; einer wird mitgenommen und einer wird zurückgelassen. Zwei Frauen werden an einer Mühle mahlen, eine wird mitgenommen und eine wird zurückgelassen.“ Jesu Aussagen sind apodiktisch und provozierend, das Unheilsgericht ist unberechenbar, jeden kann es treffen und es gibt keine Begründung für den doppelten Gerichtsausgang: Die einen werden gerettet, die anderen verworfen. Die überraschende Gefährlichkeit des Unheils ist auch Thema der Parabel vom reichen Kornbauern (Lk 12,16–20)214. Der Bauer handelt aus seiner Perspektive vernünftig („Ich werde meine Scheunen abreißen und größere bauen und dort all mein Getreide und meine Früchte sammeln. Dann will ich zu meiner Seele sagen: Seele, du hast viele Güter lagern auf viele Jahre. Ruhe dich aus, iss, trink, sei fröhlich!“), jedoch vergisst er bei seinen Selbstreflexionen Gott! Gott fordert im Schlusswort („Du Narr, diese Nacht wird man dein Leben von dir fordern! Was du jedoch bereitet hast, wem wird es gehören?“) genau diese Relation ein – zum Gericht des Mannes; Gottvergessenheit führt zum Lebensverlust.
In völlig anderer Weise wird das Unheilsgericht in der Parabel vom klugen Verwalter in Lk 16,1–8a zum Thema215. Die Erzählung weist Elemente eines Kriminalfalles und einer Komödie auf, der Erzähler verleitet die Hörer dazu, dem Schicksal des Verwalters und seinem energisch sich selbst rettenden Handeln zu folgen. In einer lebensbedrohlichen Situation unternimmt der Verwalter alles, um sich die Zukunft zu erhalten. Sein rechtlich unmoralisches Verhalten wird nicht bewertet. Vielmehr kommt für den Menschen alles auf die Erkenntnis an, dass angesichts der Botschaft Jesu und ihrer Folgen ein entschlossenes, schnelles und kluges Handeln gefordert ist, um ebenso wie der Verwalter sein Leben vor dem Abgrund zu retten.
Wie sehr es auf das Handeln des Menschen angesichts des nahenden Unheils ankommt, illustriert die Doppelparabel vom Hausbau in Q 6,47–49216. Wie der Hausbauer durch vorhersehende Planung eine Katastrophe verhindert, so kann man dem drohenden Unheil durch Klugheit entgehen, nämlich durch das Tun der Worte Jesu. Die Zeichen der Zeit zu erkennen wird auch in Q 17,26–28 gefordert. Jesus erinnert seine Zeitgenossen daran, wie das Geschlecht z. Zt. des Noah und wie die Zeitgenossen des Lot in Sodom und Gomorrha ganz plötzlich mit dem göttlichen Unheilsgericht bestraft wurden. Die Unausweichlichkeit und die Unerbittlichkeit des Unheils stehen hier im Mittelpunkt, denn Noahs und Lots Rettung werden nicht beschrieben. Auffallend ist, dass vom unmoralischen Verhalten des Sintflutgeschlechts und der Bewohner von Sodom und Gomorrha nichts erwähnt wird. Israels Verlorenheit misst sich nicht an moralischen Werten, sondern an seinem Verhalten gegenüber Jesus. Dies steht auch im Gleichnis von den spielenden Kindern Q 7,31–34 im Mittelpunkt217: Die Ablehnung des Täufers und Jesu durch Israel wird unter Aufnahme volkstümlicher Motive218 in unaufdringlicher Schärfe herausgestellt. Die Pointe des Bildes (V. 32b: „Wir spielten euch mit der Flöte auf, und ihr habt nicht getanzt, wir stimmten Klagelieder an, und ihr habt nicht geweint“) besteht darin, dass die Angeredeten keinerlei Anstalten machten, auf die Aufforderungen und Angebote des Täufers und Jesu einzugehen. Sie greifen zu Vorwänden (V. 33f: „Denn Johannes kam, er aß und trank nicht, und ihr sagt: Er hat einen Dämon. Der Menschensohn kam, er aß und trank, und ihr sagt: Siehe, dieser Mensch, ein Fresser und Säufer, ein Freund von Zöllnern und Sündern“), um sich nicht der neuen Situation stellen zu müssen. Die Ablehnung des Menschensohnes führt unausweichlich zum Unheilsgericht.
Jesus als Repräsentant des Gerichtes Gottes
Alle bisherigen Texte haben deutlich gezeigt, dass Jesus das Verhalten gegenüber seiner Person und seiner Botschaft zum Kriterium im kommenden Gerichtsgeschehen erhob: Wer seine Botschaft annimmt, empfängt im Gericht das Heil; wer sie ablehnt, verfällt dem Unheil219. Nachdrücklich artikuliert sich dieser Anspruch in Q 12,8f: „Jeder, der sich zu mir vor den Menschen bekennt, zu dem wird sich auch der Menschensohn vor den Engeln bekennen. Wer mich aber vor den Menschen verleugnet, wird vor den Engeln verleugnet werden.“220 Innerhalb einer Gerichtsverhandlung ist es allein der Menschensohn, der als letzte Instanz belohnt oder bestraft, d.h. Jesus (s.u. 3.9.2) fungiert hier (wie in anderen Texten) keineswegs nur als Zeuge, sondern als Richter. In Jesu Unheilsbotschaft liegt eine unübersehbare personale Zuspitzung vor; das Unheil erfolgt dort, wo Jesus abgelehnt wird. Jesus nimmt für sich nicht nur in Anspruch, das Gericht Gottes anzukündigen oder durchzuführen, sondern er selbst ist das Gericht; an seiner Person entscheiden sich Heil und Unheil221. Jesus ignoriert die Sonderstellung Israels unter den Völkern, greift die Heils- und Erwählungsgewissheit scharf an und bindet die vorausgesetzte Schuld an die Haltung gegenüber seiner Person; Umkehr ist Hinwendung zu Jesus. Die Unheilsbotschaft erweist sich damit als ein grundlegender Bestandteil des gesamten Wirkens Jesu222. Sie lässt sich nicht weltanschaulich eliminieren223,