Theologie des Neuen Testaments. Udo Schnelle. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Udo Schnelle
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846347270
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Zeit ganz nahe bevorsteht. Ja er hat sogar Momente prophetischen Tiefblicks, in welchen er das jenem entgegenstehende Reich des Satans bereits im Wesentlichen als besiegt und gebrochen erkennt und dann spricht er in kühnem Glauben von einem bereits wirklichen Angebrochensein des Reiches Gottes.“145 Albert Schweitzer verschärfte diese Position: Das Reich Gottes „liegt jenseits der ethischen Grenze zwischen Gut und Böse; es wird herbeigeführt durch eine kosmische Katastrophe, durch welche das Böse total überwunden wird. Damit werden die sittlichen Maßstäbe aufgehoben. Das Reich Gottes ist eine übersittliche Größe.“146

      Beide Interpretationsmodelle sehen Richtiges: Zweifellos ist die Perspektive Jesu auf das kommende, unmittelbar bevorstehende Reich Gottes ausgerichtet, in dem Gott selbst seine neue Wirklichkeit schafft. Das Kommen des Reiches Gottes bedeutet das Kommen einer real neuen Welt. Zugleich entfaltet das Reich Gottes eine ungeahnte neue ethische Energie, die den Menschen zu einem neuen Handeln öffnet. Weil das Reich Gottes für Gottes Herrschaft in Gegenwart und Zukunft, Gottes Nähe, Gottes Liebe, Gottes Parteinahme, Gottes Gerechtigkeit, Gottes Wille, Gottes Sieg über das Böse und Gottes Güte steht, bestimmt es alle Bereiche der Verkündigung und des Handelns Jesu und seiner Nachfolger. Das Reich Gottes speist sich nicht aus einem spekulativen Wissen über die Zukunft, sondern es reicht in höchst aktiver Gestalt in die Gegenwart hinein und ruft die Menschen zu einer neuen Wahrnehmung der Wirklichkeit Gottes in der Welt und einer neuen Interpretation und Ausrichtung des eigenen Handelns angesichts der überraschenden Nähe Gottes auf. Davon handelt Jesu Ethik im Horizont des Reiches Gottes.

      H.MERKLEIN, Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip. Untersuchung zur Ethik Jesu, fzb 34, Würzburg 31984; R.SCHNACKENBURG, Die sittliche Botschaft des Neuen Testaments I, HThK.S 1, Freiburg 1986, 31–155; S.SCHULZ, Neutestamentliche Ethik, Zürich 1986, 18–83; W.SCHRAGE, Ethik des Neuen Testaments, GNT 4, Göttingen 21989, 23–122; J.SAUER, Rückkehr und Vollendung des Heils. Eine Untersuchung zu den ethischen Radikalismen Jesu, Regensburg 1991; G.THEISSEN/A.MERZ, Der historische Jesus (s.o. 3), 311–355; J. P. MEIER, A Marginal Jew IV (s.o. 3), 478–646.

      Es ist in der Forschung umstritten, ob man von einer Ethik Jesu sprechen kann. Wird der Ethik-Begriff in eine reflexive, theoretische Diskursebene eingebettet und Ethik immer als ein Element eines Theorieunternehmens bestimmt, so wird man bei Jesus nicht von Ethik, sondern von moralischen Aussagen/Stellungnahmen, von ‚morality‘ sprechen müssen147. Andererseits gibt es zahlreiche Hinweise dafür, dass Jesus weitaus mehr als ein Vertreter eines kontextuellen Ethos ist148: 1) Viele seiner ethischen Aussagen haben einen prinzipiellen Charakter und lassen sich gerade nicht auf einmalige Stellungnahmen reduzieren. 2) Die ethischen Aussagen Jesu weisen deutlich eine Struktur und innere Gewichtung auf, bei der das Liebesgebot Mitte und Zentrum zugleich ist. 3) Schließlich können Jesu (teilweise radikale) Aussagen zu ethischen Fragestellungen in sein Gesamtwirken integriert werden. Deshalb ist es sinnvoll, auch weiterhin von einer Ethik Jesu zu sprechen. Man wird sogar angesichts der Vielfalt der Texte und Themen sagen können, dass Jesus als ethischer Lehrer auftrat. Er wollte offenbar zu einer inneren Befriedung der jüdischen Gesellschaft beitragen und sah in einem veränderten Gottesbild und dem Gebot der Gottes-, Nächsten- und Feindesliebe die Voraussetzungen dafür.

      Jesu Ethik orientiert sich am Willen Gottes, der angesichts des kommenden Reiches Gottes und der damit verbundenen Entmachtung des Bösen wieder in seiner ursprünglichen, d.h. schöpfungsgemäßen Bedeutung zur Geltung gebracht wird. Protologie und Eschatologie bilden bei Jesus eine vom Gottesgedanken getragene Einheit. Im Horizont des Reiches Gottes geht es um die Proklamation und Durchsetzung des ursprünglichen Willens Gottes149. Weisheitliches Schöpfungsdenken und radikale Ethik angesichts des gegenwärtig kommenden Reiches schließen sich bei Jesus nicht aus, sondern ergänzen sich in seiner theozentrischen Perspektive.

      Der Wille des Schöpfers

      Überschwänglich kann Jesus die Schöpfergüte Gottes preisen, der die Sonne über Gute und Böse aufgehen lässt (Mt 5,45) und ohne dessen Willen kein Haar vom Haupt fällt (Mt 10,29–31). Gott sorgt für die Vögel und die Lilien, um wieviel mehr wird er für die Menschen da sein (Mt 6,25–33)150. Dieser weisheitliche Gedanke (vgl. Sir 30,23b–31,2) führt nun aber bei Jesus gerade nicht zur Befürwortung der Sorglosigkeit als einer Lebensmaxime, sondern erfährt in Mt 6,33 eine spezifische Begründung: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes, so wird euch alles andere hinzugetan“151. In der Ausrichtung auf das Reich Gottes erfüllt sich das Leben der Jünger. In der eschatologischen Prägung weisheitlichen Denkens offenbart sich ein Charakteristikum der Verkündigung Jesu152. Der menschlichen Aktivität wird ein neues Ziel gegeben: Sie soll nicht der eigenen Existenz gelten, sondern dem Reich Gottes. In der Hinwendung auf Gottes Reich und damit auf Gott den Schöpfer erfährt das menschliche Leben seine schöpfungsgemäße Bestimmung.

      Seiner Geschöpflichkeit entspricht der Mensch vor allem durch das Befolgen des ursprünglichen Schöpferwillens. Die Unauflöslichkeit der Ehe wird in Mk 10,2–9 von Jesus mit dem ursprünglichen Schöpfungswillen Gottes begründet. Es entspricht dem Willen Gottes und damit zugleich der Geschöpflichkeit des Menschen, dass Mann und Frau ein Leben lang einander anhangen (Mk 10,9: „Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden“). Die Möglichkeit der Scheidung wird von Jesus hingegen als eine Konzession des Mose an die σϰληροϰαρδία („Hartherzigkeit“) der Menschen gewertet, die sich letztlich gegen den Menschen richtet. Indem Jesus die Scheidung verwirft, wertet er nicht nur die Stellung der Frau in der jüdischen Gesellschaft auf, sondern er stellt sich über die Autorität des Mose und nimmt für sich in Anspruch, den auf das Wohl des Menschen gerichteten ursprünglichen Willen Gottes wieder zu Gehör zu bringen. Zugleich setzt er damit die Scheidungsmöglichkeit nach Dtn 24,1–4 außer Kraft!

      Mk 10,2–9 geht in seiner vorliegenden literarischen Form zwar nicht auf Jesus zurück, dürfte aber sachlich seine Position wiedergeben153. Dies bestätigt 1Kor 7,10f (ohne die von Paulus eingefügte Parenthese V. 11a), wo Paulus die Unauflöslichkeit der Ehe auf das Wort des Kyrios zurückführt. Die Ausnahmeregelungen in Mt 5,32 (παρεϰτὸς λόγου πορνείας) und Mt 19,9 (μὴ ἐπὶ πορνείᾳ) sind matthäisch154.

      Auf eine Wiederherstellung der Schöpfungsordnung zielen auch die Jesusworte in Mk 2,27 und 3,4: Der Sabbat soll als Schöpfungswerk dem Leben dienen und an dieser Maxime hat sich das Handeln des Menschen zu orientieren. Wie die Heilungen (s.u. 3.6.3) und die torakritischen Worte (s.u. 3.8.2) haben die ethischen Aussagen Jesu eine schöpfungstheologische Dimension. Weil Schöpfung gottgewolltes Leben bedeutet, Gott gleichermaßen Geber und Erhalter des Lebens ist, muss sich der Mensch seines Ursprungs bei Gott stets bewusst sein und zugleich dem lebenserhaltenden Willen Gottes folgen.

      Die staatlichen Ordnungen sieht Jesus ebenfalls im göttlichen Willen begründet, wenn der Staat seinen Aufgaben nachkommt und sich zugleich auf sie beschränkt. Dieses Thema wird exemplarisch in Mk 12,13–17 behandelt155, wobei V. 17 Jesu Position markiert: „Was des Kaisers ist, gebt dem Kaiser, und was Gottes ist, Gott!“ Die Fragesteller wollten Jesus offenbar auf einem zentralen Feld der damaligen politischen Ethik zu einer Äußerung in die eine oder die andere Richtung provozieren. Die Frage war so gewählt, dass nach ihrer Meinung jede Antwort Jesus nur zum Nachteil gereichen konnte. Bejahte er ausdrücklich das Steuerzahlen an die Römer, so hätte man ihn als römerfreundlich und Feind seines eigenen Volkes hinstellen können. Verneinte Jesus hingegen die Steuern, so hätten ihn die Fragesteller als Aufrührer denunzieren können. Bedenkt man die durchgängige Verflechtung von religiösem und politischem Leben in der gesamten Antike, so ist eine kritische Komponente in V. 17a nicht zu überhören. Jesus bestreitet zwar nicht das Recht und die Macht des Staates, aber er reduziert die Bedeutung des Staates auf eine rein funktionale Ebene. Dem Kaiser sind Steuern zu zahlen, aber eben nicht mehr! Jede ideologische oder religiöse Überhöhung des Staates wird durch diese rein funktionale Bestimmung