Theologie des Neuen Testaments. Udo Schnelle. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Udo Schnelle
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846347270
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sich ein Kampfgeschehen. Jesus überwindet mit gebräuchlichen Techniken (Bedrohung des Dämons, Namenserfragung, Ausfahrwort, Rückkehrverbot) vor allem Krankheitsgeister und befreit u.a. von Epilepsie (Mk 1,23–28; 9,14–29) und Manie (Mk 5,1–20)201.

      Auf die enge Verbindung zwischen Exorzismen und Heilungen/Therapien verweist Lk 13,32b: „Siehe, ich treibe Dämonen aus und vollbringe Heilungen“. In den Therapien findet kein Kampf statt, sondern im Mittelpunkt steht die Übertragung heilender Kraft auf den Kranken202. Krankheit erscheint hier als ein Mangel an Lebenskraft, als Schwäche bis hin zur Todesnähe, der mit einer positiven Gegenkraft begegnet wird. Die Übertragung dieser Gegenkraft kann in verschiedener Weise stattfinden: In Mk 5,25–34 (Heilung einer blutflüssigen Frau) wird die heilende Kraft ohne Wissen Jesu aktiviert. In Mk 1,29–31 (Heilung der Schwiegermutter des Petrus) hat eine Berührung heilende Wirkung und beim Aussätzigen (Mk 1,40–45) vollbringen eine Berührung und ein wunderwirkendes Wort die Heilung. Heilpraktiken (z.B.Speichel, wunderwirkendes Wort) werden in Mk 7,31–37 (Heilung eines Taubstummen) und Mk 8,22–26 (Blindenheilung) geschildert. Bei der Heilung des blinden Barthimäus (Mk 10,46–52) steht das Glaubensmotiv im Mittelpunkt. Fernheilungen werden in Mk 7,24–30 (Syrophönizierin) und in Mt 8,5–10.13 (Hauptmann v. Kapernaum) geschildert; beide Überlieferungen dürften als ältesten Kern die Erinnerung an die Heilung eines heidnischen Kindes durch Jesus bewahrt haben. Nicht nur die Erzähl-, sondern auch die Wortüberlieferung bezeugt Jesu Wirken als Heiler. Der Lobpreis der Augenzeugen in Q 7,22f setzt es voraus: „Blinde sehen wieder, und Gelähmte gehen umher, Aussätzige werden rein, und Taube hören. Tote werden auferweckt, und Armen wird die Frohbotschaft verkündigt. Und selig ist, wer an mir nicht Anstoß nimmt.“ Eine beachtliche Parallele besitzt dieser Text in 4Q 521, wo ebenfalls die göttlichen Taten des Gesalbten zur Errichtung des Endheils aufgezählt werden203: Die Befreiung der Gefangenen, die Aufhebung von Blindheit und die Aufrichtung der Niedergedrückten (vgl. Jes 42,7); weiter heißt es: „Gott wird die Kranken heilen, die Toten auferwecken und den Elenden frohe Botschaft verkündigen.“ Auch Q 10,23f („Selig die Augen, die sehen, was ihr seht … Denn ich sage euch: Viele Propheten und Könige wünschten zu sehen, was ihr seht, und sahen es nicht, und hören, was ihr hört, und hörten es nicht“) zeigt, dass die Gegenwart von Jesus als die Zeit der Heilswende angesehen wurde.

      Normenwunder begegnen in der Jesusüberlieferung im Zusammenhang der Sünden- und Sabbatproblematik und haben die Funktion204, eine neue Praxis zu begründen. In Mk 2,23–28; 3,1–6 nimmt Jesus den jüdischen Grundsatz auf, dass Notlagen die Suspendierung der Sabbatgebote erlauben, weitet ihn aber zugleich aus; in Mk 2,1–12 beansprucht er die nur Gott zustehende Vollmacht, Sünden zu vergeben. Alle drei Texte sind in ihrer vorliegenden Gestalt nachösterlich redigiert, die Kernlogien gehen aber auf Jesus zurück (Mk 2, 10f.27; 3,4f) und auch die Situierung in Konflikten mit den Pharisäern und Schriftgelehrten dürfte historisch zutreffend sein.

      Während die Exorzismen, Heilungen und Normenwunder sehr wahrscheinlich im Wirken Jesu verankert sind, stellen sich bei den sog. Naturwundern (Geschenkwunder: Mk 6,30–44par; 8,1–10par; Rettungswunder: Mk 4,35–41; Epiphanien: Mk 6,45–52par) zahlreiche überlieferungsgeschichtliche Fragen205. Bei den Speisungserzählungen sprechen der Bezug auf 2Kön 2,42–44, die eucharistischen Anklänge, die Doppeltraditionen und die Steigerung des Wunderhaften deutlich für nachösterlichen Ursprung. Die zahlreichen religionsgeschichtlichen Parallelen, die atl. Anklänge und die starken christologischen Motive lassen auch den Seewandel und die Sturmstillung als nachösterliche Bildungen erscheinen. Totenauferweckungen durch Jesus (vgl. Mk 5,22–24.35–43; Lk 7,11–17) werden einerseits von der frühen Tradition vorausgesetzt (vgl. Q 7,22f), andererseits dürften sie dennoch nachösterliche Bildungen sein, denn sie variieren Jesu Auferstehung.

      Eine Wundertätigkeit Jesu im Sinn von wunderbaren Heilungen und Exorzismen ist historisch nicht bestreitbar, denn sie ist in fünf voneinander unabhängigen Überlieferungsströmungen bezeugt (Mk, Q, mt und lk Sondergut; Joh)206. Ihre theologische Interpretation muss drei Besonderheiten beachten: 1) Die Verbindung von Wunder und Eschatologie bei Jesus (vgl. Q 11,20) ist religionsgeschichtlich einzigartig, d.h. die Exorzismen und Heilungen sind eingebettet in eine eschatologisch-theozentrische Gesamtsicht. Mit der grundsätzlichen Entmachtung des Satans (vgl. Mk 3,27; Lk 10,18) gewinnt das Reich Gottes Raum. Die Heilungen sind die Eröffnung der neuen Wirklichkeit Gottes. 2) Auch die Betonung des Glaubensmotivs in der ntl. Wunderüberlieferung ist singulär, es erscheint in der Wort- (Mk 11,22f) und Erzählüberlieferung (Mk 9,23f; 10,52a). Das unbedingte Vertrauen des Kranken zu Jesus und zu sich selbst gehören zusammen und entwickeln ungeahnte Kräfte. 3) Nicht nur die eschatologische Perspektive, sondern auch die schöpfungstheologische Dimension der Exorzismen und Heilungen verdeutlichen, dass die Wundertaten in den Gesamtzusammenhang des Wirkens Jesu gehören. Die Vergegenwärtigung der Gottesherrschaft vollzieht sich in Gleichnissen, der Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern, in der Ethik und Gesetzesauslegung Jesu und in seinen Exorzismen und Heilungen. Gerade sie haben eine schöpfungstheologische Dimension; sie zielen auf die Wiederherstellung eines schöpfungsgemäßen Zustandes, sie sind Zeichen und Protest gegen die Unterjochung des Menschen durch das Böse. In Jesu Heiltätigkeit zeigt sich ein ganzheitliches Menschenbild, denn der Mensch wird gleichermaßen als geistiges, seelisches, körperliches und soziales Wesen gesehen. Krankheiten hatten in der Antike in der Regel eine soziale Ausgrenzung zur Folge207, so dass Jesu Heilungen auch eine Reintegration in die Gemeinschaft gewähren. All dies unterscheidet Jesus von Nazareth von Magiern, denn seine Heilungen setzen eine personale Verbindung voraus, kommen mit minimalen Praktiken aus und zielen auf soziale Stabilität und Vertrauen/Glauben208. Für seine Heilungen nahm Jesus im Gegensatz zu anderen kein Geld (vgl. Mk 5,26) und unterschied nicht zwischen Arm und Reich (vgl. Q 7,3.8). Zudem lehnte er Demonstrationswunder ab (vgl. Mk 8,11fpar) und vollbrachte keine Strafwunder209.

      Die Einsicht in den konstruktiven Charakter und damit auch die Relativität und den ständigen Wandel neuzeitlicher Weltbilder öffnen den Blick neu für Gottes schöpferisches Handeln in all seinen Dimensionen. Die Fixierung und Reduzierung auf die Frage nach der Faktizität von ‚Wundern‘ versperrte lange Zeit den Blick für die Mehrdimensionalität des heilenden Wirkens Jesu. Es ist vollständig eingebunden in sein gesamtes Wirken in Wort und Tat und macht Gottes heilendes Kommen in seinem Reich augenfällig und an Leib und Seele erfahrbar.

      E.BRANDENBURGER, Art. Gericht III, TRE 12 (1984), 469f; M.REISER, Die Gerichtspredigt Jesu, NTA 23, Münster 1990; J.BECKER, Jesus von Nazaret (s.o. 3), 58–99; H.-J.KLAUCK (Hg.), Weltgericht und Weltvollendung, QD 150, Freiburg 1994; W.ZAGER, Gottesherrschaft und Endgericht in der Verkündigung Jesu, BZNW 82, Berlin 1996; N.T. WRIGHT, Jesus (s.o. 3), 320–368; CHR.RINIKER, Die Gerichtsverkündigung Jesu, EHS 23.653, Frankfurt 1999; M.WOLTER, „Gericht“ und „Heil“ bei Jesus von Nazareth und Johannes dem Täufer, in: J.Schröter/R.Brucker (Hg.), Der historische Jesus, BZNW 114, Berlin 2002, 355–392.

      Gottes endzeitliches Handeln vollzieht sich nach dem Zeugnis des Alten Testaments als richtendes Handeln zum Heil oder Unheil210. Die Gerichtsvorstellung gehörte zu den weltanschaulichen Grundbeständen des Alten Testaments/der Schriften des antiken Judentums211 und Johannes d. T. stellte den Unheilsaspekt in das Zentrum seiner uns überlieferten Botschaft (s.o. 3.2.1). So verwundert es nicht, dass sich unter den Jesus-Traditionen auch die Vorstellung findet, Gott wirke zum Unheil.

      Theologisch ist die Gerichtsvorstellung mit einer starken Betonung des Unheils ambivalent. Sie entspringt häufig den Allmachtsphantasien jener Gruppen, die sie als Ausgleich ihrer gegenwärtigen Erfolglosigkeit, Unfähigkeit oder Unterdrückung bildeten: Gott soll durch sein Unheilsgericht in der Zukunft die Gerechtigkeit wiederherstellen. Ein solcher Wunsch mag verständlich sein, eine Begründung für die erbetene Vernichtung von Leben durch Gott ist er nicht. Allerdings geht die Gerichtsvorstellung in einer solchen eher negativen Bestimmung nicht auf (s.u. 6.8.3). Positiv bringt sie zum Ausdruck, dass sich Gott nicht gleichgültig